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Hans-Joachim Lenger

Virtualität und Kontrolle
Vortrag an der Universität Basel, 14.12.2011

 

Meine Damen, meine Herren,

hat man, so wie ich, einige Male das Vergnügen gehabt, hier in Basel einer Aufgabe nachzukommen, die der universitäre Betrieb „Lehrtätigkeit“ nennt, so kommt irgendwann der Zeitpunkt, sozusagen, Farbe zu bekennen. Man fühlt sich versucht, die Dinge ein wenig deutlicher beim Namen zu nennen, als die Regularien einer Vorlesung, einer Seminarveranstaltung das nahelegen oder zulassen. Man möchte, wie es so heißt, „Tacheles reden“; man sucht das Interesse näher zu bezeichnen, das einen antrieb, zu verschiedenen Gelegenheiten das Wort zu ergreifen und den Lehrer zu spielen.

Nicht zuletzt ein besonderer Umstand verstärkt diesen Drang. Die Lehrtätigkeit meines Freundes Georg Christoph Tholen neigt sich hier in Basel ihrem Ende zu, und so steht zu erwarten, dass nun eine Zeit der Abgesänge beginnt, ein Ritardando der Erinnerungen und Würdigungen, das allemal einen Abschuss ansteuert. Umso dankbarer war ich Christoph Tholen, als er mich einlud, zu einer Frage zu sprechen, die solche Figuren einer Finalisierung erfreulich durchkreuzen könnte. Denn die Verbindung von „Virtualität und Kontrolle“ ruft nicht nur einige ebenso philosophische wie politische Zusammenhänge auf. Zugleich sprengt sie die engen Bezirke dessen, was man „Medienwissenschaft“ zu nennen sich angewöhnt hat. Das Ineinander von „Virtualität und Kontrolle“ öffnet die angstbesetzten Grenzen, in denen sich diese Wissenschaft einrichten könnte oder längst eingerichtet hat. Um deren erneute Öffnung nämlich geht es, und wie jede Öffnung, die diesen Namen verdient, so geht auch diese aus einer Wiederholung hervor. In ihr wiederholt sich, was in medienwissenschaftlichen Horizonten und Begriffen gleichsam eingekapselt ist, unkenntlich, zum Schweigen und um seine Virulenz gebracht wurde.

Wiederholen wir deshalb, was Christoph Tholen in den 70er Jahren schreiben konnte; berührt es doch unmittelbar, was ich Ihnen heute über die Zusammenhänge von „Virtualität und Kontrolle“ zu sagen beabsichtige. Im Vorwort eines kleinen Bandes mit Texten Félix Guattaris, der damals unter dem Titel „Schizoanalyse und Wunschenergie“ erschien, lesen wir: „Wir leben am Beginn einer Formation, die man die ‚sozio-maschinelle Semiose’ nennen könnte, d.h. ein Spiel be- und einzeichnender Vorschriften (auch terroristischer Art), welche eine geschichtsphilosophische Rechtfertigung und Zielsetzung gesellschaftlicher Entwicklung aufgegeben hat und die Gegenwart festschreibt. Der ‚Sinn’ der sozialen Semiosen ist dasselbe wie ihre Definition: ständige operationale Simulation ihres Bestandes zu sein, der wiederum eben diese Simulation ist (Implosion).“ Und Tholen setzt hinzu, dieser Prozess könne „auch als Herrschaft eines streng codierten und banalen Überlebens“ verstanden werden, „welches Kraft und Steigerung von Lebensentwürfen vergessen hat. So wäre der Bestand, das ‚auf der Stelle tretende Melden von Überlebensbeständen’, welches nach Heidegger die moderne Technik charakterisiert, zu beschreiben als Dispositiv eines modernen Kriegsfeldzuges.“ (1)

Diese Einlassung ist knapp vierzig Jahre alt; umso weniger lässt sie an Deutlichkeit zu wünschen übrig. Recht früh skizziert sie jenen subkutanen Kriegszustand, in den wir eintraten, seitdem sich die Zerrissenheiten der kapitalistischen Gesellschaften zu jener finanzökonomischen Agonie zuzuspitzen begannen, deren Zeugen wir heute sind. Medienverbundschaltungen spielen in diesen Agonien eine nicht unerhebliche Rolle. Was auch keineswegs verwundert: ist Geld in sich selbst doch ein Medium. Ebenso aber wäre ohne die Kriegstechnologien des Computers undenkbar, was man den „finanzmarktgetriebenen Kapitalismus“ nennt. Dessen Systeme fällen Entscheidungen mittlerweile in Nanosekunden. Zugleich rechnen sie zukünftige Entwicklungen hoch. Sie kalkulieren das Kommende, verwandeln es in eine Simulation der Gegenwart, die in Finanztransaktionen umso rigider exekutiert wird. Nicht zuletzt darin besteht die Macht jener Rating-Agenturen, über die sich im Wirtschaftsteil der Tageszeitungen näheres nachlesen lässt. Deren Kalkül taxiert nicht nur die Zukunft. Es generiert Dispositive der Investition, es erzeugt finanzpolitische Handlungsmaximen, die dann mit diktatorischer Macht über das Kommende verfügen, indem sie es in eine Schleife verwandeln, in der die Gegenwart unablässig auf sich selbst einstürzt. Kurz, was sich einst als „Zukunft“ ausspannte, wird absorbiert, die Gegenwart systemisch „festgeschrieben“, wie Tholen sagte. Auf diese Agonien der Zeit wird zurückzukommen sein, wenn im folgenden von den Gesellschaften der Kontrolle die Rede ist. In ihnen nämlich strukturiert sich, was Tholen die „sozio-maschinellen Semiosen“ genannt hatte.

Aus dem Jahr 1990 datiert ein Text, in dem Gilles Deleuze auf wenigen Seiten eine Physiognomie der Kontrollgesellschaften zeichnet. Er konstatiert eine allgemeine Krise jener Einschließungsmilieus, deren Analytiker Michel Foucault gewesen sei. Im 18. und 19. Jahrhundert entstanden, hätten diese Milieus zu Beginn des 20. Jahrhunderts allerdings ihren Höhepunkt erreicht. Die unausgesetzten Reformen, denen sie seither ausgesetzt sind, zeigen eine Art Verfallsgeschichte an: „Schulreform, Industriereform, Krankenhausreform, Armeereform, Gefängnisreform. Aber jeder weiß, dass diese Institutionen über kurz oder lang am Ende sind. Es handelt sich nur noch darum, ihre Agonie zu verwalten und die Leute zu beschäftigen, bis die neuen Kräfte, die schon an die Türe klopfen, ihren Platz eingenommen haben. Die Kontrollgesellschaften sind dabei, die Disziplinargesellschaften abzulösen.“ (2)

Sollte dieser Übergang von der Disziplin zur Kontrolle in wenigen Aspekten charakterisiert werden, so müsste von der Ökonomie, von den Medientechnologien und den Lebenswelten gesprochen werden.

 

Erster Aspekt: die Ökonomie. An die Stelle der Fabrik, so schreibt Deleuze, sind die Unternehmen getreten. An die Stelle einer Agglomeration von Arbeitskräften auf einem Raum, die von der Fabrik eingeschlossen werden, rückten transnationale Netzwerke, die sich in Begriffen „globaler Wertschöpfungsketten“ definieren. Die Auslagerung der Produktion in die Peripherien, in die so genannte Dritte Welt und vermeintliche Schwellenländer korrespondiert der Montage von Halbfertigprodukten in den vormaligen Zentren des Kapitalismus, in denen er sich zusehends der Endmontage, der Koordination, der Kontrolle und Steuerung verschreibt.

All dies wäre ohne digitale Netzwerke und Informationssysteme undenkbar. Sie erlauben es, globale Produktions- und Verwertungsprozesse nahe der „Echtzeit“ zu überwachen und zu synchronisieren, wobei sie deren Effektivität beständig erhöhen. Heute können die CEOs der großen Unternehmen an ihren Terminals jede Operation überwachen und steuern, die gleichzeitig auf den Märkten der Welt ausgeführt wird. In Mikrotechnologien, in Laptops und Handys sind deren Mitarbeiter den Informationsströmen zugeschaltet, die in den Netzwerken der Firmen zirkulieren, deren Teil sie zugleich sind. Ubiquitär abrufbar, unausgesetzt mobilisierbar gleichen sie insofern eher Kombattanten, deren Schlagkraft auf den Schlachtfeldern von Produktion und Zirkulation im Nu freigesetzt werden kann. Nicht länger unterliegen sie nur dem beständigen Kommando einer Zentrale, der Kontrolle einer Führung. Zugleich werden sie in die technologischen Systeme einer Selbstkontrolle eingelassen, die ihre jeweilige Effektivität, ihren Status, taktische Bedingungen und operative Aufgaben auf den Bildschirmen mobiler Geräte jederzeit abrufbar hält.

Unablösbar davon unterstehen diese Prozesse einem Diktat von Finanzmärkten, die das Kapital in eine imaginäre Funktion verwandeln. Die Abkopplung von industriekapitalistischen „Realitäten“ einer Mehrwertproduktion versetzt das Globale nicht nur in jenen spekulativen Taumel, in dem Wetten auf die Zukunft einander überbieten und die Gegenwarten mit Implosionen schlagartiger Entwertungen heimsuchen. Damit verschiebt sich der Status des Geldes selbst. Es hört auf, eine symbolische Ordnung zu bezeichnen, wie sie etwa von Marx’, zumindest in weiten Bereichen, noch vorausgesetzt worden war. So sehr dessen Analysen nämlich schon ins Auge fassen, wie sich das Geld in eine imaginäre und fiktive Funktion verwandelt, so wenig wird eine traditionelle „marxistische“ Analyse die Strukturen erfassen können, in denen das Fiktive eine neue Globalität hervorbringt. Möglicherweise markiert dies jedoch den Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft: „Vielleicht kommt im Geld«, so Deleuze, „noch am besten der Unterschied der beiden Gesellschaften zum Ausdruck, weil die Disziplin immer im Zusammenhang mit geprägtem Geld stand, zu dem das Gold als Eichmaß gehört, während die Kontrolle auf schwankende Wechselkurse, auf Modulationen verweist, die einen Prozentsatz der verschiedenen Währungen als Eich-Chiffre einführen. Der alte Geldmaulwurf ist das Tier der Einschließungs-Milieus, während das der Kontrollgesellschaften die Schlange ist.“ (3)

Hieran knüpfen Fragen an, vor die nicht zuletzt die gegenwärtige Krise stellt. Historisch scheint sich in ihr ein Zyklus zu schließen, der mit dem Ende des Währungssystems von Bretton Woods eröffnet worden war. Die Installation des amerikanischen Dollars als Leitwährung hatte der Weltökonomie nach dem 2. Weltkrieg eine relative Stabilität verliehen; die Entkopplung dieses Dollars von seiner Golddeckung zu Beginn der 1970er Jahre – Resultat auch der gewaltigen Kosten des Vietnamkrieges – leitete jene große spekulative Ära ein, die nunmehr implodiert. So sehr die staatlichen Systeme deshalb einspringen müssen, um mit gewaltigen Milliardentransfers die unabweisbar gewordenen Mutationen der techno-ökonomischen wie spekulativen Systeme zu stützen, so wenig kündigt dies doch eine Rückkehr zum Gold als „Eichmaß“ oder eine Stärkung der Staatsapparate an. Ganz im Gegenteil wohnen wir einer definitiven Usurpation dieser Apparate durch die Finanzmärkte bei. „Systemrelevant“ geworden, verwandeln sie die Staaten in Geiseln, die genommen werden, um das Regime imaginären Kapitals zu globalisieren. Umso weniger aber dürfte deshalb eine durchgängige Rückkehr zu Strukturen der Unterwerfung zu erwarten sein, wie sie aus den Disziplinargesellschaften bekannt waren. Vielmehr dürfte Techniken der Kontrolle und Selbstkontrolle im kommenden Zyklus eine neue Dynamik verliehen werden.

 

Zweiter Aspekt: Technologien und technologische Medien. Nicht von ungefähr beherrschten technologische Medien in den vergangenen Jahrzehnten die Fantasien und Leidenschaften des Publikums, die Obsessionen der Nutzer, die begrifflichen Kühnheiten ihrer Theoretiker. Tatsächlich verschränken sie sich von Anbeginn mit den Techno-Ökonomien der Macht, die sich mit ihnen armieren und deren hierarchische Struktur sie ebenso zertrümmern. Sie ersetzen diese Apparate durch Netzwerke, „sich selbst verformenden Gussformen“, wie Deleuze sagt, deren Struktur im übrigen allemal militärischen Erfahrungen entspringt. Darin erzeugen sich neue Techniken und Technologien der Macht und Kontrolle, der Synchronisierung und Bündelung der Kräfte. „Die alten Souveränitätsgesellschaften“, so Deleuze, „gingen mit einfachen Maschinen um: Hebel, Flaschenzüge, Uhren; die jüngsten Disziplinargesellschaften waren mit energetischen Maschinen ausgerüstet, welche die passive Gefahr der Entropie und die aktive Gefahr der Sabotage mit sich brachten; die Kontrollgesellschaften operieren mit Maschinen der dritten Art, Informationsmaschinen und Computern, deren passive Gefahr in der Störung besteht und deren aktive Gefahr Computer-Hacker und elektronische Viren bilden.“ (4)

Längst haben medientechnologische Entwicklungen seither eingeholt, nein: überholt, was sich in dieser Analyse ankündigte. Digitale Netztechniken umspannen nicht nur jenen Globus, den sie selbst hervorbringen; sie dringen in die Mikrostrukturen der Gesellschaften ein, deren Individuen sie einer permanenten Adressierbarkeit und Kontrolle unterwerfen. „Online“ zu sein, wurde zur privilegierten Lebensform, ständig mobilisierbare Verfügbarkeit zur ersten Tugend, die den Usern in alltäglichen Fitnessprogrammen eintrainiert wird. Reflexen der Kontrolle und Selbstkontrolle, Maximen der Geschmeidigkeit und Ausdauer, die sich so errichten, korrespondieren Datenströme, auf die in Mikrocomputern ebenso zugegriffen werden kann, wie sie auf die Körper der ihnen Unterworfenen zugreifen. So werden sie in globalen Netzwerken verfügbar, doch nicht, ohne beständigen Schocks und Zerrissenheiten ausgesetzt zu sein. Wo die spekulativen Ökonomien jener Usurpation einer Zukunft gleichkommen, mit der sich die Zeit in eine Kolonie fiktiver Werte verwandelt, werden medientechnologische Landnahmen der Körper zum Schauplatz einer Zeitlichkeit, die jede „Selbstgegenwart“ Lebendiger im Kollaps tradierter Zeithorizonte zertrümmert. Analog einer Ökonomie, die den gesellschaftlichen Corpus mit Hohlformen einer Zukunft auflädt, die ihn unausgesetzt implodieren lassen, werden Körperzustände den ebenso sanften wie rigiden Regimes numerischer Kontrollen und Selbstkontrollen unterworfen. Nicht weniger wird den Körpern abverlangt, als den Schlägen einer wie in Schocks eintreffenden Zeitlichkeit gewachsen zu sein, die diese Zukunft unablässig in der vermeintlichen Gegenwart einbrechen und wiederkehren lässt, um sie ebenso zu zersprengen.

Kein Wunder, dass diese Situation nach Drogen, Anästhetika oder Aufputschmitteln verlangt, die – in Kriegen erprobt – auch im Frieden zu äußersten Leistungen befähigen. Es ist, wie Deleuze deshalb sagt, „nicht nötig, die außergewöhnlichen Pharmaerzeugnisse anzuführen, die Nuklearformationen, Genmanipulationen, auch wenn sie dazu bestimmt sind, in den Prozess einzugreifen.“ (5) Jede Analyse einer techno-medialen Globalität bliebe verkürzt, die diese biopolitischen und medizinischen Dimensionen vernachlässigen würde. Narkotisierung und Techniken, mit denen sich die eigene Leistungsfähigkeit als Rausch inszenieren lässt, sind unverzichtbare Technologien jener Medi(k)alisierung, mit denen die Kontrollgesellschaften ihr Regime antreten. Und im Zugriff auf Genom und Proteom schließlich kündigen sich neue und ungeahnte Möglichkeiten an, der Fluchtlinien von Körpern und Affekten Herr zu werden.

 

Dritter Aspekt: die „Lebenswelten“. Sie verschieben sich insbesondere an jenen Bruchflächen, die sich in der Zertrümmerung zeitlicher Horizonte abzeichnen. In den Disziplinargesellschaften ermöglichten solche Horizonte noch, wie trügerisch immer, einen Entwurf von „Biografien“. Sie stellten Etappen in Aussicht, die zu durchlaufen waren, und Einschnitte, die den Übergang von einer zu einer anderen Etappe erlauben sollten. An die Stelle des biografischen Entwurfs aber tritt in den Kontrollgesellschaften die Allgegenwart solcher Einschnitte und insofern der unbegrenzte Aufschub, die „ewige Schwebe“, das Nie-zu-Ende-Kommen „lebenslangen Lernens“ im System der Fort- und Weiterbildungen. Ohne Anfang und Ende, ist dieses Lernen den ubiquitären Datenströmen von Informatiken unterworfen, von denen es sich wie in wechselnden Wellen aufnehmen und forttragen lässt. „Der Mensch der Disziplinierung“, schreibt Deleuze, „war ein diskontinuierlicher Prozess von Energie, während der Mensch der Kontrolle eher wellenhaft ist, in einem kontinuierlichen Strahl, in einer Umlaufbahn. Überall hat das Surfen schon die alten Sportarten abgelöst.“ (6)

Glätte und Widerstandslosigkeit, Flexibilität und entspanntes Relaxing werden so zur vorherrschenden Bewegungsform, Wellness zum Restposten, an den sich die Reminiszenz eines „anderen Lebens“ allein noch halten soll. Wo sich Techno-Ökonomien der Zeit bemächtigen, verschmelzen „Arbeit“ und „Leben“ zu einer unauflösbaren, wenn auch zerrissenen Einheit, die von den allgegenwärtigen Fortbildungsmaßnahmen garantiert wird. Um deren Kohärenz zu sichern, installieren sich Reglements des Lifestyle, die fein justierten Trainingseinheiten der Studios und jene minutiös genormten Gesundheitsprogramme, mit denen sich eine ubiquitäre körperliche und mentale Kontrolle in Selbstgenuss und Schlagkraft verwandeln soll. Denn zu „surfen“, das verlangt nach Ausdauer und der Geschmeidigkeit, überraschende Optionen augenblicklich wahrnehmen und unvermittelte Wendungen vollziehen zu können. Stets geht es darum, sich von immer anderen Wellen forttragen zu lassen. Solche Einschnitte durchziehen deshalb immer weniger die Biografien; was einst „Biografie“ hieß, konstelliert sich vielmehr aus beständigen Brüchen, die jede Fiktion einer kohärenten „Lebenszeit“ zerfallen lassen.

Nicht zuletzt deshalb wird das Lernen „lebenslang“. Es besteht nicht darin, Reserven anzulegen, die ins Spiel gebracht werden könnten, etwa wo in Ordnungen eines Genießens eingetreten wird. Das Lernen erzeugt allein Kompetenzen auf Abruf, Fertigkeiten, deren Wert morgen schon hinfällig ist und neuen Fertigkeiten Platz machen wird. In ein beständiges Spiel von Input und Output, Reiz und Reaktion eingelassen, setzen sich überall modulare Prinzipien einer Erzeugung und Verwertung des Wissens durch: in den Unternehmen, den Institutionen und Medienapparaten. Bis in die staatlichen Bildungseinrichtungen hinein treten Credit Points, Programme der Evaluierung und Optimierung ihr trauriges Regime an, dessen Standards sich in den Unterhaltungsprogrammen der Sender verdoppeln und wiederkehren: „Die idiotischsten Spiele im Fernsehen sind nicht zuletzt deshalb so erfolgreich, weil sie die Unternehmenssituation adäquat zum Ausdruck bringen.“ (7)

 

Was einst „Zukunft“ hieß, beschreibt so nicht länger die Öffnung eines Offenen, wie sie sich geschichtsphilosophisch oder existentialanalytisch befragen ließe. Es wird zur Figur eines Futur II, zur sozio-maschinellen Semiose eines „Es wird gewesen sein“, das gebieterisch in sich selbst kreist. Unablässig geht es heute aus den medialen Kalkülen immer komplexer werdender Finanz-Algorithmen und mikrotechnisch perfektionierter globaler Medienverbundschaltungen hervor. Die Mächte des Augenblicks, so ließe sich sagen, machen tatsächlich Anstalten, das Unendliche oder die Zeit selbst zu usurpieren und festzusetzen. Unter solchen Bedingungen bleibt von dem, was einst „Leben“ hieß, allerdings nur ein bloßes „Überleben“ übrig. Nicht länger beschreibt es Figuren einer Kraft oder einer Steigerung von Lebensentwürfen, wie Tholen damals schrieb. Es wird zu einem Leben „jenseits des Lebens“, zu einer Figur, die den eigenen Tod und damit jede Zukunft schon hinter sich hat.

Vor einigen Wochen nun tauchten in New York bei Demonstrationen der Occupy-Bewegung Akteure auf, die dabei als Zombies in Erscheinung traten. Zu blutiger Ungestalt geschminkt, bewegten sie sich über die Straßen, monströs und ungelenk taumelnd wie jene Menschenfleisch fressenden Ungeheuer, die George A. Romero seit den 70er Jahren auf der Leinwand erscheinen lässt. Und deshalb erinnerte ich mich, es ist ebenso etwa 30 Jahre her, dass ich mit einem Freund den Plan fasste, einen gemeinsamen Text unter der Überschrift „Kant und die Zombies“ zu verfassen. Insbesondere wollten wir einer These Aufmerksamkeit schenken, die mein Freund gesprächsweise eingeführt hatte: die Zombies seien nur deshalb welche, weil sie Kants Dritte Kritik, die der Urteilskraft nämlich, nicht gelesen hätten. Nun weiß ich nicht, wie unser Essay ausgefallen wäre; leider entstand er nie. Nicht ohne Interesse wäre jedenfalls gewesen, wie er das Überleben oder das „Jenseits des Todes“ und damit die Frage der Zeitlichkeit behandelt hätte.

Vielleicht in Kontexten eines „sensus communis“, den Kant ja dahingehend bestimmt, er bestünde im endlosen Sich-Versetzen nicht in die wirklichen, sondern in die bloß möglichen Urteile anderer? Dieses Sich-Versetzen in bloß mögliche, nie wirklich werdenden Urteile hält sich offenbar stets in einer bestimmten Virtualität zurück. Es schiebt sich auf, unterläuft das Mögliche und Wirkliche gleichermaßen und setzt sie zugleich einer Unruhe aus, die dem Kalkül entgeht. Nicht zuletzt schließt dieses unmögliche, virtuell bleibende Versetzen in andere alle ein, die vor uns waren und nach uns kommen; Lebende wie Tote gleichermaßen. Damit könnte sich hier ein unabschließbares Gefüge, ein Spiel ohne Aneignung freilegen, das sich auf eine Philosophie der Geschichte ebenso wenig einschwören lässt wie auf eine techno-ökonomische Tyrannei der Präsenz. Anders gesagt: Hier könnte sich eine Virtualität abzeichnen, die dem diktatorischen Regime einer Präsenzmetaphysik ebenso entgeht wie einem techno-medial gewordenen Kapital. Unablässig durchquert das Virtuelle dessen Regimes, stört sie auf, unterbricht und subvertiert sie. Das uneinholbare, a-präsente Gemeinsam-Sein, das aus dem Entzug seiner selbst aufsteigt, könnte also entzifferbar machen, was jeder Präsenz oder Geschichte einer „Gemeinschaft“ vorausgeht. So zumindest könnten viele Texte Jean-Luc Nancys gelesen werden, und alle Probleme von Differenz und Militanz müssten sich von hier aus anders stellen.

Im Fleisch der Zombies dagegen soll sich eine gewaltsame Absorption dieser Differenz vollzogen haben. Es verwandelt das Leben selbst in die Gestalt eines gefräßigen Todes. Es unterwirft alles, was sich im differentiellen Spiel des Virtuellen aktualisieren könnte, dem Regime eines erkalteten, eines tödlichen Signifikanten, der es seiner Diktatur des Fressens unterwirft. Wohl deshalb heißt es dann auch bei Deleuze und Guattari: „Absorbierter, diffuser, immanenter Tod: so der Zustand, den der Signifikant im Kapitalismus annimmt, das leere Fach, das überallhin gestellt wird, um die schizophrenen Ausflüge aufzufangen und die Ritze zu verstopfen. Der einzige moderne Mythos ist der der Zombis – tödliche Schizos, die, wieder zur Vernunft gebracht, gut für die Arbeit sind.“ (8)

Kaum dürften die New Yorker Demonstranten, die als Zombies verunstaltet die Straßen der Stadt querten, jene Regimes der Zeit analysiert haben, aus denen diese tödlichen Schizos hervorgehen. Ebenso wenig werden sie die Maschinerien der Kontrolle rekonstruiert haben, die alle Ausflüge auffangen, alle Ritzen verstopfen sollen, in denen sich ein virtuelles Spiel der Differenz aktualisieren könnte. Und doch – die Mutation, die sie als Zombies vollzogen, bringt auf ihre Weise zur Sprache, nämlich körperlich, was sich zwischen Virtualität und Kontrolle, zwischen Präsenzmetaphysik und ihrem Zerspringen, zwischen den Mächten der Unterwerfung und denen des Aufbegehrens an Zerrissenheiten ankündigt oder abspielt. Tatsächlich geht es um eine Affektion der Körper, die danach verlangt, auch die Macht anders zu denken.

Die Macht nämlich ist nicht zunächst oder in erster Linie, was sich auf der Ebene des Bewusstseins abspielen würde. Viel eher durchläuft sie die Körper, richtet sie zu, dressiert sie, um jener Affekte, Gesten und Lüste Herr zu werden, die ihr zugleich widerstreiten. Ebenso wenig stellt sie sich deshalb einfach einer „Ohnmacht“ entgegen, die – erst einmal zu Bewusstsein gebracht – mit den Apparaten, den Instanzen und Verfügungen der Macht zu brechen erlauben würde. All dies gehört noch Figuren einer „ersten Aufklärung“ an, die sich bei Kant in der Intelligibilität, bei Hegel im Selbstbewusstsein des Bürgers, bei Marx im Klassenbewusstsein des revolutionären Proletariers verankern wollte. Überall sollte eine gewisse „Arbeit des Begriffs“ die Unterdrückten über die Bedingungen ihrer Unterdrückung ins Bild setzen. Dieses „Zu-Bewusstsein-Kommen“ ihrer Lage sollte die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit hervortreiben, mit den Ordnungen bestehender Mächte zu brechen und andere Ordnungen einzusetzen. Die Macht der Ohnmächtigen bestand, dialektisch gesprochen, in jener Kraft einer Negativität, die das Auseinandertreten der Gegensätze in einer höheren Einheit „aufheben“ sollte.

Nun hat aber nicht nur die Geschichte des Denkens, sondern auch die der Revolutionen allzu deutlich gezeigt, wie trügerisch all diese Begriffe bleiben mussten. Nicht nur, dass die Revolutionen, anstatt mit der Macht zu brechen, deren staatliche Apparate ins Terroristische steigerten, sobald sie siegreich waren. Mehr noch: nicht einmal über die Bedingungen ihres eigenen Sieges haben sie sich hinreichend verständigen können. Zumindest hätte es auch die Revolutionäre irritieren müssen, dass der Umsturz gesellschaftlicher Machtverhältnisse so gut wie nirgends aus einer Eskalation sozialer und politischer Klassenkämpfe hervorging, wie ihre Lehre doch voraussagte. Überall waren es Kriege, die den sozialen und politischen Umsturz vorbereiteten und ermöglichten. Überall war es eine militärische Eskalation, war es die totale Entfesselung aller ökonomischen, sozialen, politischen und medialen Potenzen, die den Aufstand einleitete.

Erst diese Eskalation versetzte die Gesellschaften in jene Agonie einer tödlichen Erschöpfung, die auch den Revolutionen Raum schuf. Nicht die Mächte der Produktion also, sondern die des Krieges lösten jene Erschütterungen aus, die tradierte Mächte implodieren ließen; und nicht so sehr die Instanzen eines Bewusstseins, sondern die Mobilisierung der Körper, ihrer technisch potenzierten Kräfte und medialen Konstellationen trieb auch die gesellschaftlichen Zerwürfnisse hervor, die sich in Revolten und Revolutionen Ausdruck verschaffen. Und deshalb ist es von untergeordneter Bedeutung, ob die New Yorker Zombies die Strukturen einer implodierenden Zeit analysiert haben, bevor sie sich maskierten; auch mag die Frage, ob sie Kants Dritte Kritik gelesen haben, eher zweitrangig bleiben.

Nicht der Krieg nämlich ist die Fortsetzung einer Politik mit anderen Mitteln; die Politik setzt den Krieg auf ihre Weise fort. Und wenn Christoph Tholen damals von den „Kriegsfeldzügen“ einer sozio-maschinellen Semiose sprach, an deren Beginn wir stünden, so entbehrt dieser Terminus keineswegs seiner Schärfe. Er müsste heute unter Bedingungen von Kriegsfeldzügen präzisiert werden, die den Gesellschaften der Kontrolle ihre fluidale Prägung verleihen. Dazu bedarf es jedoch einer anderen Konzeption der Beziehungen von Körper, Macht und Virtualität. Wie sehr die klassischen Begriffe der Emanzipation nämlich einer Epoche angehören, die noch auf transzendentalphilosophischen Voraussetzungen ruhte, gehört zu den Einsichten, die wir erst einer „zweiten Aufklärung“ verdankten. Sie verbindet sich, neben vielen anderen Namen, vor allem mit dem Michel Foucaults. Folgt man seinen eingehenden Analysen, so ist die Macht zunächst keine Institution, keine Formation und kein Apparat, den die Mächtigen den Ohnmächtigen entgegensetzen. Die Macht dieser Apparate steigt vielmehr selbst aus differentiellen Beziehungen von Kräften auf, die einander überlagern, widerstreiten, sich aneinander messen, durchkreuzen und steigern, sich lähmen oder blockieren. Überall reagiert eine Macht bereits auf eine andere, würde sie anders doch ihren eigenen Begriff auflösen. Träte sie nämlich einer vollendeten Ohnmacht gegenüber, so wäre sie keineswegs Macht, sondern lediglich offene Gewalt.

Anders gesagt: Wo immer eine Macht in Erscheinung tritt, wo immer sie fraglose Hegemonie für sich reklamiert und das Gesetz des Handelns restlos an sich reißen will, reagiert sie ihrerseits nur auf Kräfte, die ihr ebenso vorausgehen wie widerstreiten. Der Widerstand ist deshalb keine Größe, die an eine Macht anschließen würde, um sich gegen sie zu formieren. Er ist kein Zweites, keine Bewegung, die dialektisch aus der Macht hervorginge und mit einer gewissen Nachträglichkeit auf sie reagiert. Viel eher bestimmt sich die Macht als Ensemble von Techniken, die es erlauben, sich in vielfachen Kräftekonstellationen zu bewegen. Sie beschreibt ein unruhiges Feld und setzt einen Widerstand insofern immer schon voraus. Die Macht bezeichnet also keine stehende Größe, sondern viel eher ein bewegliches Gefüge von Stratagemen und Strategien. Und deshalb kann Foucault unmissverständlich schreiben: „wenn sich im Kern der Machtbeziehungen und gleichsam als deren ständige Existenzbedingung eine gewisse ‚Widerspenstigkeit’ und störrische Freiheit findet, gibt es keine Machtbeziehung ohne Widerstand, ohne Ausweg oder Flucht, ohne möglichen Umschwung. Jede Machtbeziehung impliziert also zumindest virtuell eine Kampfstrategie, auch wenn die Machtbeziehungen dadurch nicht ihre Besonderheit verlieren und identisch mit diesen Strategien würden.“ (9)

Der Begriff einer „virtuellen Kampfstrategie“, von dem Foucault hier auf seine Weise Gebrauch macht, verdient insofern alles Interesse. Er markiert das Problem, wie sich Widerstandslinien im Innern der Kontrollgesellschaften abzeichnen, entziffern und virulent machen könnten. Um dieser Virulenz innezuwerden, müssen Begriffe des Virtuellen allerdings zunächst aus den technoiden Umklammerungen herausgelöst werden, in denen sie vom Jargon der Kontrolle festgehalten werden sollen. Alle Welt meint ja zu wissen, was unter dem „Virtuellen“ zu verstehen ist, und jedermann ist in jenen „virtuellen Welten“ sogar zu Hause, in die uns digitale Medien verschicken. Sie besucht nicht erst, wer am heimischen Computer ins Second Life eintritt und als Avatar in beliebige Rollen schlüpft. „Virtuell“ wurden ebenso die Chatrooms und „sozialen Netzwerke“, die Nachrichten und Ereignisse. Der Cyberspace, dieses Phantasma digitaler Technologien einer Bildberechnung, Bilderzeugung und -simulation, verspricht gar ein physisches Eintauchen in „virtuelle Räume“. Hier soll mit dem Datenhandschuh und der Datenbrille die Illusion vollständig werden, in Welten gelandet zu sein, die sich unendlich mutieren und transformieren lassen.

Tatsächlich aber bezeichnet der Begriff des „Virtuellen“, der auf diese Weise landläufig wurde, nur das Bild, das sich die Gesellschaften der Kontrolle vom Virtuellen machen. Von digitalen Maschinen technoid umklammert, in binären Schalttechniken festgesetzt, sollen Überwachung, Steuerung und Simulation zusehends lückenlos werden. Was man uns in Parolen des „Virtuellen“ in Aussicht stellt, besteht aus jenen sozio-maschinellen Semiosen, deren Interaktivität Körper, Wahrnehmung und Denken einer beständigen Verfügbarkeit, Abfragbarkeit, Abtastbarkeit und Modulierbarkeit unterwirft. Nicht zuletzt darin reproduzieren sich die Regimes der Kontrolle. So taucht der Inhaber einer Flatrate ins Geisterreich der Daten, der Stimmen und Avatare ein, um sich hier einer transmortalen Existenz zu versichern, die einer Art unausgesetzter Gleichzeitigkeit gehorcht. Per Computer oder Handy „Online“ zu sein, wird zum Existenzbeweis, die Flatrate zum Passierschein oder zur Bürgerurkunde eines anderen, eines neuen Lebens, das auf den Höhen der Zeit siedelt oder vielmehr surft. Dies aber heißt immer auch, sich einer unausgesetzten Kontrolle zu unterwerfen. So verzeichnen die Technologien des Surfens jede Bewegung, jede Verbindung, jede Regung mit lückenloser Präzision, um sie zu identifizieren und einer globalen Datenerhebung zuzuführen. Google Street View macht die Welt zwar jedem Internet-Benutzer visuell verfügbar; finanziert wird dieses Projekt aber nicht zuletzt von Firmen, die mit dem amerikanischen Pentagon selbststeuernde bewaffnete Vehikel entwickeln und für künftig automatisch zu führende Kriege in den großen Städten das notwendige kartografische Datenmaterial erheben. Überall dringt das Virtuelle in die Mikrologien ein, um sie taxierbar zu machen und den Regimes der Kontrolle zu unterwerfen. Von „Kriegsfeldzügen“ der Kontrollgesellschaften zu sprechen, ist deshalb kein Bild und keine Metapher. Es beschreibt deren Logik mit wünschenswerter Präzision.

Doch so unhinterfragbar der landläufige Jargon mittlerweile geworden zu sein scheint, der das „Virtuelle“ aufs bloße Technologikum reduzieren will, so brüchig bleibt er zugleich. Denn nie erschöpft sich der Begriff der Macht darin, eine geschlossene Formation von Kräften zu bezeichnen, die auf das leere Feld einer Ohnmacht träfe. Überall reagiert eine Macht auf Kräfte, die ihr bereits vorausgehen. Und insofern bleiben auch die hegemonialen Mächte der Kontrollgesellschaft von einer unhintergehbaren Nachträglichkeit oder Reaktivität gezeichnet, noch wo sie auf ihre Weise ein „Virtuelles“ einführen. Anders gesagt: Das Bild, das die Mächte der Kontrolle vom „Virtuellen“ entwerfen, bleibt so lange trügerisch, wie der Widerstand nicht entziffert wird, der diesem „Virtuellen“ selbst noch vorausgeht, auf das die hegemonialen Mächte reagieren dessen sie Herr zu werden suchen.

Vorläufig will ich deshalb von „differentiellen Zerrissenheiten“ der Zeit sprechen, in denen sich dieser Widerstand abzeichnet. Tatsächlich zielen alle medientechnologischen „Virtualitäten“, die das Regime der Kontrolle medientechnisch aufbietet, auf die Herstellung einer Gleichzeitigkeit, die diese Zerrissenheiten homogenisiert. Ob auf der Ebene finanzpolitischer, medialer oder militärischer Operationen: Überall geht es darum, Zäsuren des Ungleichzeitigen gleichzuschalten und zur Identität zu verschweißen. So soll sich im Geldsymbol die Gleichzeitigkeit eines ökonomischen Werts inkorporieren, „auf einen Schlag“ nämlich, wie es etwa bei Marx hieß. So soll die rastlose Erzeugung eines Mehrwerts – eines Werts über den Wert hinaus – jenem Phantasma Präsenz verleihen, das den absoluten Wert in Wirklichkeit zu rufen sich anschickt, um des Unendlichen habhaft zu werden. Nicht anders werden die technischen Medien von einem Trugbild absoluter Gegenwart beherrscht, das sie ebenso unausgesetzt erzeugen. Die techno-mediale Ökonomie der Kontrollgesellschaften nun verbindet beide Medialitäten in neuer Weise; in dieser Verbindung ist das Kapital tatsächlich inter-medial oder hybrid geworden. Auch deshalb kann Deleuze sagen, die Kontrollgesellschaften würden eine „tiefgreifende Mutation des Kapitalismus“ ankündigen. Das Hier, das Jetzt, Gleichzeitigkeit und Verfügbarkeit des gleichzeitig Gemachten werden zum alles beherrschenden Imperativ, der sich technologisch ins Werk setzt. Techniken der Kontrolle dringen ins differentielle Spiel der Zeit ein, um es stillzustellen und dem Diktat einer Homogenität des Zeitflusses zu unterwerfen. Aus ihm entsteht nicht zuletzt jene Welt des „Globalen“, deren Entstehen wir seit zwei Jahrzehnten beiwohnen.

Denn was „ist“, muss eindeutig adressierbar gemacht werden, um den systemischen Mächten einen Zugriff zu erlauben. Nicht zuletzt medientheoretisch entspricht dem der Versuch, die ontologische Differenz eines uneinholbaren, nicht-präsenten „Inmitten“, des Medialen also im Wortsinn, in die technische Positivität von Geräten, Apparaten und in die Abrufbarkeit irgendwelcher „Medienkompetenzen“ zurückzubinden. Der Bestand, das „auf der Stelle tretende Melden von Überlebensbeständen“, wie Tholen Heidegger eingangs zitierte, sucht als verfügbare Masse zu bestellen, was ihm ebenso uneinholbar bleibt. Im Bestand soll verfügt werden, was ihm als Differenz des Augenblicks zu sich doch unverfügbar ist. Hier allerdings zeichnen sich die Widerstandslinien und Agonien der Kontrollgesellschaft ein, die ihr vorausgehen und derer sie Herr zu werden suchen. Denn überall sind die Unterbrechungen, Zäsuren oder Differenzen dieser Identität ebenso vorausgeschickt, wie sie deren verschwiegene Voraussetzung sind. Immer neu stören sie sie im unruhigen Spiel einer Virtualität auf, die sich technoid nicht einfassen lässt.

Die Schicksale einer Ökonomie, einer Technologie oder einer Medialität, die die Zeitigung der Zeit in die Selbstpräsenz des Augenblicks verschweißen wollen, treten uns, den Lesern der Tageszeitungen, den Zeugen der Fernsehnachrichten, heute unübersehbar vor Augen. Überall ist von „Crashs“ die Rede, denn auf allen Ebenen sind die Dinge in eine unentwirrbare Konfusion eingetreten. Ob ökonomisch, politisch oder militärisch: Man könnte den Eindruck gewinnen, dass die Versuche des „Krisenmanagements“, Zeitlichkeit im Augenblick restlos adressierbar, kontrollierbar und verfügbar zu machen, einer unendlichen Überlastung dieses Augenblicks gleichkommen. Man könnte meinen, dass wir Erschütterungen oder Brüchen beiwohnen, die den Augenblick wie unter dieser Überlast gleichsam implodieren lassen. Und ebenso könnte man der Auffassung sein, dass diese Implosion ihre Bruchstücke in unkalkulierbarer Weise freisetzt oder in unkontrollierbare Bahnen katapultiert. Aber dies wäre nicht nur zu bildhaft gedacht; vor allem träfe es nicht, was sich gerade ereignet. Denn eshätte den Augenblick immer noch als Unteilbarkeit, sagen wir: eines Atoms gedacht, das unter der Gewalt der Zeit nur zertrümmert würde, die ihm zugefügt wird.

Doch der Augenblick ist kein „Zeitatom“, er ist nicht einfach mit sich identisch, und ebenso wenig definiert er sich als Punktualität eines „Jetzt“, das sich in einer Zeitreihe auffädeln ließe wie auf einer Perlenkette. Davon sprach bereits Kants Postulat, mit denen er die Zombies konfrontierte, sich in andere bloß mögliche, keineswegs wirkliche Urteile zu versetzen. Bereits das wirkliche Urteil nämlich wäre Mitteilung, die aus einer Teilung hervorgeht. Die Virtualität des bloß möglichen Urteils aber geht dieser Teilung selbst noch voraus. Sie teilt diese Teilung in sich, sie differiert sie, verräumlicht und verzeitlicht sie gleichermaßen, ohne in eine Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft einzutreten. Doch so wenig die Virtualität dieses Aufschubs deshalb geschichtsphilosophisch gefasst werden kann, so sehr ist der Entzug jeder Mitteilung die unhintergehbare Voraussetzung von allem, was präsent oder „wirklich“ werden könnte.

Immer tiefer, immer lückenloser suchen die Technologien der Kontrollgesellschaft in diese Unverfügbarkeit deshalb einzudringen. Sie tasten ihre Öffnungen ab, sie umgarnen sie mit der subtilen Gewalt einer Interaktion, die alle Regungen auf Reflexe von Reiz und Reaktion hin dressiert. Nicht länger erschöpft sich die Macht deshalb in disziplinarischen Techniken einer gewaltsamen Zurichtung der Körper. Sie wird fluidal, sie wird „gasförmig“, wie Deleuze sagt. Zusehends verliert sie ihre pyramidale Architektur. Stattdessen organisiert sie sich in Netzwerken, in denen jeder Knotenpunkt potentiell die Information des Gesamtsystems abrufbar macht. Sie wird mikrologisch oder gar nanotechnisch und sickert in alle Poren des gesellschaftlichen Lebens ein. Nicht zuletzt wird sie „inter-aktiv“, indem sie ein unausgesetztes Spiel von Aktion und Reaktion in Gang setzt, in dem die Kontrollierten die Lücken der Kontrolle durch Techniken der Selbstkontrolle stopfen.

Die New Yorker Zombies, die Manhattans Boulevards querten, brachten dies in der Inszenierung ihrer Körper unübersehbar zum Ausdruck. Tödliche Schizos, wieder zur Vernunft gebracht und deshalb gut zur Arbeit, gefräßige Ungeheuer, die ihren eigenen Tod überlebt haben und nichts anderes als den Tod bringen. Ihnen wären die vielen anderen an die Seite zu stellen, die von den Kontrollgesellschaften hervorgebracht werden. Die fröhlichen Surfer, die mit Virtuosität über die Schaltflächen der Benutzeroberflächen gleiten und in diesen Oberflächen die Abgründe genießen, vor denen sie zugleich schaudernd zurückweichen. Die Medienjunkies, die sich in Schalttechniken und Schnittstellen ihrer Apparate und Geräte vertiefen, um sie mit Öffnungen zu übersäen, derer die Apparate nicht Herr werden. Die Ausgebrannten und Depressiven, die den Tyranneien der Selbstverwirklichung unterliegen, um im individuierten Selbst nur auf eine vollendete Leere zu stoßen, in der sie umso unentrinnbarer versinken. Die Ausgeschlossenen und Gedemütigten, die sich umso fanatischer den Technologien der Kontrolle und Selbstkontrolle zu überantworten, wie sie von den Talkshows und Real Soaps der Fernsehsender exekutiert werden. Die Schüler und Studenten, die sich den Tyranneien der Evaluierung, der unausgesetzten Leistungsabfrage und den Ökonomien der Credit Points aussetzen, ohne dass ihnen die Glätte von Wissensapparaten noch Halt und Anhalt böte, an denen sie sich festmachen könnten. Tatsächlich durchqueren die Linien, in denen sich Virtualität und Kontrolle amalgamieren, die Körper und Körperzustände, die Affekte und Leidenschaften der Unterworfenen in jeder Faser.

Die Aufgaben, die sich dabei nicht zuletzt dem Denken stellen, dürften kaum zu ermessen sein. So fraglos der strategische Charakter ist, der Begriffen des Virtuellen zukommt, so sehr steht deren Ausarbeitung noch am Anfang. Zu Beginn war von den Öffnungen auch der Medienwissenschaften die Rede, die aus einer Wiederholung ihrer verschwiegenen Voraussetzungen hervorgehen müssten; und jetzt wäre zu sagen: diese Öffnungen dürften sich nicht zuletzt im Zeichen eines Virtuellen abspielen, das von seinen technoiden Umklammerungen befreit worden wäre.

Deleuze etwa schlägt vor, den Beziehungen von Möglichkeit und Wirklichkeit eine andere entgegenzusetzen, die er als Beziehung von Virtuellem und dessen Aktualisierung bestimmt. Der Bruch, der sich damit in einer aristotelischen Konzeption der Zeit abzeichnet, ist allerdings gravierend. Denn aristotelisch wird die Möglichkeit immer vom Wirklichen her bestimmt. Was nicht in Wirklichkeit treten kann, lässt sich auch als Mögliches nicht fassen; vielmehr ist es unmöglich. Das Virtuelle dagegen lässt sich dem Möglichen weder unterordnen noch dem Wirklichen entgegensetzen. Viel eher ist es irregulär, ungeordnet, sprunghaft oder chaotisch. Unversehens bricht es ein, aktualisiert es sich, um die Regularien geordneter Zeitverläufe zu unterbrechen. In jedem Dreck kann es einreißen, um die Verläufe der Geschichte mit Ereignissen heimzusuchen. Insofern ist es gewissermaßen plebejisch und aristokratisch zugleich.

Wie überall, wo Begriffe des Virtuellen Kraft gewinnen, nisten sie auch bei Deleuze in einer Differenz der Zeit. Was, so fragt er mit Bergson, erlaubt das Selbstverständlichste: das Vergehen eines Augenblicks nämlich und die Heraufkunft eines anderen? Dieser Augenblick, so erklärt er, muss in sich bereits von seiner eigenen Vergänglichkeit gezeichnet sein. Er muss als gegenwärtig bereits vergangen sein, um einem anderen Platz zu machen. Er muss in sich selbst also ungleichzeitig, Differenz zu sich sein, um ein Werden und Vergehen zu erlauben. In sich virtuell, aktualisiert sich in ihm beständig, was jede Präsenzmetaphysik bereits destruiert hat. Dieses Denken stattet die Unvordenklichkeit einer Vergangenheit aber offenbar mit gebieterischer Macht aus, um die Zeit in Virtualitäten einer Zeitigung zu versetzen. Und ist es damit nicht einer Ontologie verpflichtet, die die Ekstasen der Zeit nur mit einer gewissen Nachträglichkeit verzeichnen kann?

Wo Schrift ist, da ist auch Virtualität, lesen wir bei Jacques Derrida. Denn im Supplement der Schrift schiebt sich auf, was volle Gegenwart nicht sein oder werden kann. Jede Gegenwart ist durch einen Riss von sich selbst gespalten, in dem sich die différance einer Schriftspur ebenso markiert wie zurückzieht. Weder lässt sie sich in der Unvordenklichkeit einer Vergangenheit noch im Ausstehen einer erfüllten Zukunft verankern. Jedem Augenblick schreibt sie sich als Kraft eines Aufschubs ein, der die aristotelische Zeit aufeinanderfolgender Jetzt-Punkte immer schon durchbrochen hat und der Virtualität unkalkulierter Ereignisse ebenso Raum wie Zeit verschafft.

Virtuell, so könnten wir bei Jean-Luc Nancy lesen, bleibt die Undarstellbarkeit eines Mit-Seins, das indes allem vorausgeschickt bleibt, was in Erscheinung treten könnte. Virtuell also wäre jene Gemeinschaft, die Gemeinschaft nicht werden kann, doch deshalb alles durchkreuzt, was sich ökonomisch, medial, politisch oder kulturell als „Gemeinschaft“ herstellen, zur „Gemeinschaft“ verdichten will.

Hier bleibt nicht der Raum, in diese Diskussionen einzutreten. Die Vielfalt jedoch, die sich in Begriffen des Virtuellen abzeichnet, macht auf ihre Weise die Dringlichkeit kenntlich, diese Diskussion aufzunehmen. Unter Bedingungen jener tiefgreifenden Transformation des Kapitalismus, von der Deleuze sprach, wird sie tatsächlich unabweisbar. Sie besitzt strategischen Charakter, und viel wird davon abhängen, welche neuen und anderen Begriffe aus ihr hervorgehen. Die Kriegsfeldzüge der sozio-maschinellen Semiosen, wie Christoph Tholen sie genannt hatte, machen solche Begriffe jedenfalls zusehends unverzichtbar, soll denn Farbe bekannt werden.

Farbe bekennen – so begann ich meine Überlegungen. Die Zerrissenheiten einer techno-medialen Ökonomie, zu deren atemlosen Zeugen wir wurden, der endlose Aufschub, in den die Gesellschaften der Kontrolle diese Zerrissenheiten homogen und adressierbar machen wollen, machen nämlich nichts notwendiger als das. Es geht darum, welchen Kampfwert unsere Begriffe haben und aus welchen Wiederholungen sie auftauchen; es geht darum, wie sie sich teilen, fragmentieren und anders konfigurieren, um Wirkungen freizusetzen, die die Regimes der Kontrolle unterbrechen. Gegen Ende seines Textes aus den 70er Jahren schrieb Christoph Tholen: „Die meisten von uns, mich eingeschlossen, leiden unter der Depression, sich selbst gleich zu sein (müssen). Und wenn die Synthese von Beruf und Alltag nicht gelingt, werden viele resignativ wegen der fixen Idee, dass jene eigentlich existieren müsste. Die Konsequenz ist nicht selten Zynismus oder Reformismus.“ (10)

Durch viele Transformationen hindurch dürfte sich an der Triftigkeit dieses Hinweises nur wenig geändert zu haben. Und weil ich nun zu Beginn ankündigte, auch meinerseits Farbe zu bekennen, so will ich mich am Ende nicht drücken. Doch will ich lieber einem anderen das Wort erteilen, in dem ich mich wiederfinde, ohne es ergreifen zu müssen. Es findet sich bei Gilles Deleuze, in einem Gespräch, das er mit Tonio Negri über die Beziehungen von „Kontrolle und Werden“ führte. Hier nämlich sagt Deleuze, und nichts könnte aktueller sein: „Angeblich haben Revolutionen eine schlechte Zukunft. Aber dabei bringt man zwei Dinge durcheinander: die Zukunft der Revolutionen in der Geschichte und das Revolutionär-Werden der Menschen. Es sind nicht einmal dieselben Leute in beiden Fällen. Die einzige Chance der Menschen liegt in einem Revolutionär-Werden, nur dadurch kann die Schande abgewendet oder auf das Unerträgliche geantwortet werden.“ (11)

 

 

Anmerkungen

(1) Georg Christoph Tholen: Der fröhliche Funktionalismus, in: Félix Guattari, Schizoanalyse und Wunschenergie, Bremen: Impuls o.J., S.19.
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(2) Gilles Deleuze: Postscriptum über die Kontrollgesellschaften, in: ders. : Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 255.
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(3) Ebd., S. 258.
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(4) Ebd., S. 259.
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(5) Ebd., S. 255.
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(6) Ebd., S. 258.
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(7) Ebd., S. 256f.
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(8) Gilles Deleuze / Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, S.433.
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(9) Michel Foucault: Subjekt und Macht, in: ders.: Schriften 4, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 292.
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(10) Georg Christoph Tholen, ebd., S.24.
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(11) Gilles Deleuze: Kontrolle und Werden, in: ders.: Unterhandlungen, ebd., S.245.
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