Hans-Joachim
Lenger
Eine différance der Werte
Marx mit Derrida
Folgt man dem Cours de linguistique générale, so operiert die Semiotik mit einem Begriff des „Werts“, den Saussure an prominenter Stelle auch einen „Grundsatz“ nennt. Dieser „Grundsatz“ bestimme nicht nur den Begriff des sprachlichen Zeichens. Ebenso gelte, daß „auch außerhalb der Sprache alle Werte sich von diesem Grundsatz beherrscht zeigen.“ (1) Ein jeder „Wert“ nämlich, so Saussure, nicht nur der sprachliche, unterliege einer doppelten Relation. So muß man „zur Feststellung des Wertes von einem Fünfmarkstück wissen: 1. daß man es auswechseln kann gegen eine bestimmte Menge einer anderen Sache, z.B. Brot; 2. daß man es vergleichen kann mit einem ähnlichen Wert des gleichen Systems, z.B. einem Einmarkstück, oder mit einer Münze eines andern Systems, z.B. einem Franc.“ (2) Nicht anders verhalte es sich in den Ordnungen der Sprache und des Sprechens. Hier läßt sich ein Signifikant einerseits gegen eine Bedeutung „auswechseln“, die er als Signifikat hervorruft. Andererseits läßt er sich mit anderen Signifikanten „vergleichen“, die ihn sein lassen, was er ist, indem er nicht ist, was sie sind, und ihn insofern in einer Struktur plazieren, die lediglich Unterschiede, nicht aber Positivitäten kennt. Erst in dieser doppelten differentiellen Relation, die sich ebenso voraussetzt wie entzieht, ebenso manifestiert wie verbirgt, wird sich zeigen, präsentieren oder aktualisieren lassen, was einem Etwas an „Wert“ zukommt.
Insofern geht der Cours über die Horizonte einer Sprachwissenschaft im engeren Sinn aber auch schon hinaus. Wo er die Frage des „Werts“ aufwirft, faßt Saussure bereits eine Art „allgemeiner Ökonomie" ins Auge, die sich zunächst im unscheinbaren Medium einer Analogie ankündigt: Auch außerhalb der Sprache zeigen sich die „Werte" als von ein und demselben Grundsatz beherrscht. Wie hier, so unterstehen sie auch dort und anderswo einem einheitlichen Prinzip. Der „Wert“, der in unterschiedlichen Ökonomien auftritt, unterscheidet sich zwar, je nach dem er in dieser oder einer anderen Ordnung zirkuliert. So manifestieren sich die „strukturalen Werte“, die sich in der Sprache und im Sprechen aktualisieren, in anderen symbolischen Relationen als jene Tausch- und Gebrauchswerte, die in einer „politischen Ökonomie“ auftreten. Gleichwohl verhalten sich beide Ordnungen analog zueinander, gehorchen sie doch, Saussure zufolge, einem gemeinsamen Prinzip und werden vom selben „Grundsatz“ beherrscht. Erkennbar ruht die Last des Arguments zunächst auf der Evidenz dieser Entsprechung, deren Status sich indes aufs äußerste fragwürdig erweisen wird. Denn sollte hier wie dort und anderswo ein und derselbe „Grundsatz“ herrschen, wie Saussure erklärt, so wäre dies ein „Grundsatz“, der sein angestammtes „Territorium“ weder in der Sprache noch im Warenverkehr, weder hier noch dort oder anderswo fände. Im mehrfachen Wortsinn wäre er vielmehr ohne „Grund“. Als „Grundsatz“, der „Grund-Satz“ nicht sein kann, müßte er als „etwas“ gedacht werden, das jede Grundlegung bereits in sich entgründet, jedes Semen in sich dis-seminiert hat. In Figuren einer „Analogie“ kündigt sich deshalb bereits bei Saussure an, was jede Vorstellung eines „Systems“ ebenso zur Disposition stellt wie die geschlossenen Anordnungen einer „Struktur“.
Anders gesagt, erweist sich der Cours von Anfang an als von einer doppelten Bewegung durchkreuzt. (3) Einerseits spielt er in dieser Entgründung, die jede „spezifische“ Ökonomie durchquert hat und jeden ihrer Terme aus einer Differenz hervorgehen läßt, die ihn von der Ordnung bereits getrennt hat, in der er auftaucht. Indem er einem „Grundsatz“ gehorcht, der „Grundsatz“ nicht ist, bewegt sich „Wert“ also nicht einfach „innerhalb“ jener Ökonomie, die ihn „Wert“ sein läßt. Vielmehr ist er von einem Entzug durchkreuzt, der mit den „Grundlegungen“ einer ökonomischen Struktur auch den Status brüchig macht, den er als „Wert“ in ihr annimmt. Dieser „Wert“ erweist sich als in sich entgrenzt, von sich getrennt und insofern als „Wert“ im Innersten auch aufs Spiel gesetzt. Hier wird deshalb, wie Derrida in Hinblick auf Saussure festhält, der Begriff des Zeichens selbst fragwürdig. Andererseits aber – und gerade deshalb – muß Saussure, wie jeder Ökonom, alle Anstrengungen unternehmen, diese Entgründung vergessen zu machen. Nur so kann die sprachliche Ökonomie nämlich zum „Gegenstand“ einer Wissenschaft werden, kann diese Wissenschaft nach einer Zirkulation von „Zeichenwerten“ fragen, die sich innerhalb einer bestimmten Ordnung taxieren und kontrollieren lassen. Anders gesagt, muß jede Ökonomie die Entgründung, die ihrer Genese eingeschrieben ist, ebenso auch gelöscht haben; erst so läßt sie sich als Ökonomie „begründen“.
Diesem Spiel gilt deshalb die ungeteilte Aufmerksamkeit Derridas, wo er im Ausgang von Saussure das „allgemeine System dieser Ökonomie“ befragt. (4) Wie nämlich generiert sich, so fragt Derrida, die Ökonomie von Sprache und Sprechen im Cours? Und worin sollte sie sich abschließen können, um Ökonomie zu sein? Nicht anders als in einer Zirkularität, die ein bestimmtes Element der „Struktur“ privilegiert, um es als Supplement ihres eigenen Ursprungs fungieren zu lassen und damit eine bestimmte Ökonomie in sich abzuschließen. Die Sprache, so erklärt es uns Saussure, so zitiert es Derrida, ermögliche zwar das Sprechen; „das Sprechen aber ist erforderlich, damit Sprache sich bilde; historisch betrachtet, ist das Sprechen das zuerst gegebene Faktum.“ (5) So sehr also die Möglichkeit eines Sprechens aus der Sprache hervorgeht, so sehr soll das Sprechen zugleich deren genealogisches Prinzip gewesen sein: soll es jenes differentielle Gefüge „historisch“ bereits hervorgebracht haben, das ihm zu sprechen doch erst erlaubt – ganz so, als sei in der zirkulären Bewegung des Signifikanten die genealogische Frage einer „Produktion“ seiner eigenen Struktur nicht nur aufgeworfen, sondern bereits beantwortet. Unschwer ist zu sehen, wie das „Faktum des Sprechens“ bei Saussure von hier aus einen Phonozentrismus der Präsenz verbindlich machen wird, der die Möglichkeit des Systems im „lebendigen Sprechen“ verankern will. Was immer als sprachliches Zeichen einen systemischen „Wert“ haben will, muß auf dieses Sprechen hin verpflichtet werden. In ihm soll das System seine „natürlichen“ Grundlage, seinen Ausgang und sein télos gefunden haben. Nur so könne es etwa gelingen, gewisse „Mißgeburten“ (6) auszuschließen, die den Gründungsakt der Ökonomien durchkreuzen, ihrem Gesetz entgehen und die zirkulären Bahnen ihrer Selbstaneignung unterbrechen könnten.
Wo immer solche Bahnen dafür bürgen sollen, nicht etwa Mißgeburten, sondern veritable „Werte“ zur Welt zu bringen, hat man es also mit einer Konstruktion zu tun, die Bestimmungen einer „Natur“ aus dem Vorrang der „Präsenz“ hervorgehen läßt. Und deshalb wird der Phonozentrismus, wenn auch unter vielerlei Namen, zum Signum einer jeden Ökonomie, zum Geburtsbrief einer „Ökonomie im allgemeinen“ werden. Erst ein Zirkel, der sich phonozentrisch verbrieft, soll den Wechselkurs garantieren können, der Einnahmen und Ausgaben, Investitionen und Erträge überwacht, indem er jedem Term seinen Schickungsort vorgezeichnet hat. Doch ebenso unübersehbar wie unverzichtbar bleibt bei Saussure deshalb auch die Nachträglichkeit, mit der er dies in Szene setzt: nämlich das Sprechen aus einer Struktur auftauchen läßt, die es seinerseits hervorgebracht haben soll. Die „einfache Präsenz“, die sich auf diese Weise herstellen will, ist insofern sich selbst gegenüber bereits verspätet. Und um so eindringlicher wird deshalb die Frage, wie sich das Gewebe von Differenzen seinerseits konstituiert oder produziert, aus dem diese Nachträglichkeit wie ein phantasmatischer Schatten auftaucht, um sich zur Legende seines eigenen Ursprungs verdichten zu können. Eben dies kennzeichnet den „blinden Fleck“, der in jedem zirkulären Schema einer Ökonomie wirksam ist – und beschreibt auch die Tragweite des strategischen Eingriffs, den Derrida vornimmt. „Behalten wir zunächst das Schema, wenn nicht den Inhalt der von Saussure formulierten Forderung bei, so bezeichnen wir mit différance jene Bewegung, durch die sich die Sprache oder jeder Code, jedes Verweisungssystem im allgemeinen 'historisch' als Gewebe von Differenzen konstituiert.“ (7) Von Anfang an setzt sich Derridas Gestus also einer doppelten Opposition aus. Die différance markiert zunächst die Verspätung eines jeden Ursprungs sich selbst gegenüber. Sie zeichnet jenen Bruch im Innern jedes Zirkels nach, in dem sich eine Ordnung umlaufender „Werte“ (einer Sprache, eines Codes, eines Verweisungssystems im allgemeinen) herstellen und verbindlich machen soll. Doch um so weniger wird sich dies, andererseits und darüber hinaus, noch in einfachen Begriffen einer „Produktion“ oder „Konstitution“ adressieren lassen. Auch in diesen Begriffen – oder gerade in ihnen – erhält sich die Fiktion eines „einfachen Ursprungs“ nämlich aufrecht. Und insofern sind alle diese Begriffe in sich problematisch, erweisen sie sich als mit einer metaphysischen Erbschaft belastet, die sie immer neu dem Zirkel übereignet; weshalb Derrida auch hinzusetzt: „'Sich konstituiert', 'sich produziert', 'sich schafft', 'Bewegung', 'historisch', usw. müssen jenseits der Sprache der Metaphysik, in der sie mit allen Implikationen befangen sind, verstanden werden. Es wäre zu zeigen, warum die Begriffe Produktion, Konstitution und Geschichte unter diesem Gesichtspunkt immer noch mit dem verschworen sind, was hier in Frage steht, doch das würde heute zu weit führen – auf die Theorie der Repräsentation des 'Kreises' zu, in dem wir eingeschlossen zu sein scheinen (…).“ (8)
Es genügt also keineswegs, den repräsentativen Kreisfiguren einer Zirkulation den Terminus einer „Konstitution“ oder „Produktion“ einzutragen, deren ungeteilte Präsenz die re-präsentative Ordnung einer Ökonomie sodann konstituieren und regulierbar machen würde. All dies könnte eine Metaphysik der Präsenz nur verfestigen. Die Analyse bliebe jenem Zirkel verschworen, der sich im transzendentalen Gestus einer „Produktion“ um so mehr wiederherstellt, als er sie in sich selbst abschließt. Begriffe der Konstitution oder Produktion tragen insofern bestenfalls vorläufigen Charakter. Sie stellen sich jedoch im gleichen Augenblick zur Disposition, klammern sich sozusagen ein, sobald die „(aktive) Bewegung der (Produktion der) différance“ (9) selbst zur Frage wird. Kein einfacher Verweis auf die Vorgängigkeit eines sich präsenten „Sprechens“, kein ungebrochener Appell an die produktive Instanz einer „lebendigen Arbeit“ wird deshalb ausreichen, um jene „Bewegung“ zu fassen, „durch die sich die Sprache oder jeder Code, jedes Verweisungssystem im allgemeinen 'historisch' als Gewebe von Differenzen konstituiert“, wie Derrida sagt. Dort und über das hinaus, was Saussure an Substanzbegriffen in differentielle Relationen zerstreut hatte, setzt Derridas Analyse eine Dissemination frei, die jede ungeteilte Präsenz eines einfachen Terms heimsucht – und sei es der eines „ursprünglichen Sprechens“, auf das Saussure sich zurückzieht, oder der einer bestimmten „Arbeit“, auf die Marx rekurrieren wird. Transzendentale Instanzen, in denen sich ein System soll begründen können, werden nicht anders als jede teleologische Perspektive, in der es sich abschließen soll, einer tiefgreifenden Erschütterung ausgesetzt. Es geht, vereinfacht gesagt, um eine Destruktion, die jeden Versuch unterbrochen hat, das differentielle System einer Ökonomie im Medium eines privilegierten Terms, eines transzendentalen Wortes auf eine Präsenz oder Parusie seiner „Werte“ hin zu ver-pflichten, und sei es im Status ihres „Noch Nicht“. Immer müßte es sich bei einem solchen privilegierten Term um einen Topos handeln, der ebenso transzendentaler Signifikant wie transzendentales Signifikat wäre; oder, wie auch Marx notiert, um ein Wort, das „als Wort aufhörte, bloßes Wort zu sein, als Wort in mysteriöser, übersprachlicher Weise aus der Sprache heraus auf das wirkliche Objekt, das es bezeichnet, hinweist, kurz unter den Worten dieselbe Rolle spielt wie der erlösende Gottmensch unter den Menschen in der christlichen Phantasie.“ (10)
Zwar sucht sich jede Ökonomie in einem solchen messianistischen Fluchtpunkt abzuschließen, um dem differentiellen Spiel zu entgehen, in dem sie sich disseminiert. Überall geht es also darum, „einen Begriff zu denken, der in sich selbst Signifikat ist, und zwar aufgrund seiner einfachen gedanklichen Präsenz und seiner Unabhängigkeit gegenüber der Sprache, das heißt gegenüber einem Signifikantensystem.“ (11) In nichts anderem als dieser Figur einer Absolution besteht der metaphysische Gestus, der mit den Ökonomien im Bunde ist oder jede Ökonomie zur Gestalt einer Metaphysik macht. Doch es gibt kein „privilegiertes Wort“, keinen Begriff, der in dieser Weise in sich selbst Signifikat sein könnte. Jedes Element einer Struktur bezieht sich, woran Derrida unter Berufung auf Saussure erinnern kann, auf ein anderes als sich selbst. Es behält das Merkmal des vergangenen Elements an sich, wodurch es sich ebenso als Beziehung auf ein zukünftiges ausgehöhlt haben wird; unhintergehbar erweist es sich insofern als in sich differentiell. Und dies trennt nicht nur jede Gegenwart von sich; dies zerstört ebenso alle Vorstellungen von Vergangenem oder Künftigem als einer modifizierten Gegenwart. Es destruiert also Ursprungsbegriffe nicht weniger als die erlösenden Teleologien einer ausstehenden, messianistischen Präsenz, wie sie aus Substanzbegriffen abgeleitet werden könnte. „Ein Intervall muß es von dem trennen, was es nicht ist, damit es es selbst sei; aber dieses Intervall, das es als Gegenwart konstituiert, muß gleichzeitig die Gegenwart in sich selbst trennen, und so mit der Gegenwart alles scheiden, was man von ihr her denken kann, das heißt, in unserer metaphysischen Sprache, jedes Seiende, besonders die Substanz oder das Subjekt.“ (12)
Umso eindringlicher zeichnet sich an dieser Stelle das Problem eines ökonomischen „Werts“ ab, das Saussure mit Marx teilt. Im Kapital manifestiert es sich in einer nicht weniger schwankenden Begrifflichkeit als im Cours. Denn was erlaubt hier einen Austausch von Münze und Brot, Geld und Leinwand, Tauschwert und Gebrauchswert? Und was einen Vergleich zweier Münzen oder zweier Tauschwerte? Setzt jede Gleichsetzung von „Werten“, die deren Austauschbarkeit begründen soll, nicht einen ihnen gemeinsamen Wertmaßstab voraus, eine „Wertsubstanz“, die ihnen zugrunde läge? Tatsächlich wird die Darstellung dieses Problems bei Marx noch ausdrücklicher als bei Saussure von einer gewissen Logik der Abstraktion beherrscht, die immer neu dazu verführen könnte, den „Wert“ auf metaphysische Substanzbegriffe zurückzuführen. Man kennt die Eröffnungszüge im ersten Band des Kapital: Erst sobald von den stofflichen Gebrauchswerten abstrahiert wurde, können die Tauschwerte zum Gegenstand der weiteren Analyse werden; um sodann die Tauschwerte vergleichen zu können, muß eine zweite „Wertabstraktion“ erfolgen, die sie auf die Substanz eines „Werts als solchen“ zurückführt; wie Marx betont: „Als Kristalle dieser ihnen gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Substanz sind sie Werte – Warenwerte.“ (13) Die Einführung dieses substantiellen „Wertbegriffs“ scheint tat-sächlich unerläßlich zu sein. Nur über ihn vermittelt lassen sich die Tauschwerte als „Ausdruck“ oder „Erscheinung“ eines ihnen Gemeinsamen fassen, das zugleich einen Wechsel ihrer Plätze oder ihren Austausch denkbar machen soll. Insofern legt diese Ontologie Abstammungsverhältnisse nahe, die über die Struktur herrschen. Die „Wertsubstanz“ soll sich „auskristallisieren“ können, die Kristallformen der „Werte“ sollen aus einer „Substanz“ hervorgehen, deren Abkömmlinge sie sind, auf die sie sich berufen und in der sie sich beglaubigen lassen können. Zumindest ist es dies, was Marx über eine Logik der „gesellschaftlichen Substanz“ zu sagen scheint. Ein anderes jedoch, was er tatsächlich schreibt.
Wo er sich nämlich auf Einzelheiten einläßt, die eine Genealogie dieses „Werts“ lesbar machen sollen, registriert Marx ein Spiel von Differenzen, die sich einer Logik der „Abstraktion“ ebenso wenig fügen wie den Linien einer Abstammung. Keine der Gleichungen, in denen sich seine Wertgenealogie niederschreibt, spricht nämlich einfach von einer Sich-selbst-Gleichheit, die so etwas wie eine „Substanz“ ankündigen könnte. Denn nirgends sprechen die Marx’schen Gleichungen von einer einfachen Identität der Terme, die sich jeweils auf den zwei Seiten des Gleichheitszeichens positionieren. Vielmehr markieren beide Plätze eine Differenz, die sich zunächst als eine von „Aktivität“ und „Passivität“ zu erkennen gibt. In der Gleichung x Leinwand = y Rock etwa drückt die Leinwand „ihren Wert aus in Rock, der Rock dient zum Material dieses Wertausdrucks. Die erste Ware spielt eine aktive, die zweite eine passive Rolle.“ (14) Um den Wert der Ware A festzustellen, muß sie sich also einer Ware B bedienen, die innerhalb des Ausdrucks zu einer gewissen „Passivität“ verurteilt wird. Insofern aber kommt B in der Gleichung auch nicht „selbst“ zum Ausdruck, sondern verhilft A lediglich zur Darstellung seines „Werts“, der sich allein über diesen Umweg manifestieren und gewissermaßen sogar herstellen kann. Wo immer also ein ökonomischer Ausdruck präsent wird, ist er bereits von einem verschwiegenen Aufschub gezeichnet, der im Wertausdruck gelöscht wurde und in ihm unausdrücklich bleiben muß. Die Identität, die sich auf diese Weise generiert, beruht auf der Unterdrückung einer Differenz; was sich ebenso verbirgt wie anzeigt. Jede Formel einer Wertlogik erweist sich als von einem Aufschub gebrochen, der den Ausdruck sich selbst vorenthält und ihm die Möglichkeit einer „Erfüllung“ entzogen hat. Oder, wie Derrida sagt: „Jeder Begriff ist seinem Gesetz nach in eine Kette oder in ein System eingeschrieben, worin er durch das systematische Spiel von Differenzen auf den anderen, auf die anderen Begriffe verweist. Ein solches Spiel, die différance, ist nicht einfach ein Begriff, sondern die Möglichkeit der Begrifflichkeit, des Begriffsprozesses und -systems überhaupt.“ (15)
Nichts anderes zeichnet sich ab, wo Marx seine Genealogie des „Werts“ entwirft. Wertbestimmungen manifestieren sich im Zug einer Aktivität, in der sich ein Term auf einen anderen bezieht, der damit zugleich zu einer bestimmten Passivität verurteilt wurde. Immer geht dieses Spiel also mit einem Ausschluß einher, in dem das, was den Ausdruck erlaubt, zum Schweigen gebracht wurde. Stumme Differenz, die einem Spiel ausdrücklicher Wertrelationen entzogen bleibt, das sie doch ihrerseits ermöglicht; doch auf jeder Stufe, auf der sich ein „Wert“ manifestiert, wird dieser différance deshalb auch ein Term substituiert, der die Dissemination stillstellen und ihr Spiel auf die Zukunft einer ausstehenden Gegenwart verweisen soll. Gerade indem sie dies ebenso erlauben wie herausfordern, unterstehen Begriffe von Wert und Mehrwert, wie unverzichtbar sie vorläufig sein mögen, selbst noch einem metaphysischen Diktat, das immer nur auf das Ausstehen einer Präsenz verweist. Dem Gebrechen des „Werts“ wird der Imperativ unbegrenzten Mehr-Werts injiziert; sein Prozessieren besteht, anders gesagt, im aussichtslosen Versuch, das Spiel der différance in eine Differenz zurückzunehmen, die sich als ein „Noch-Nicht“ metaphysisch beherrschen ließe. Und dies trifft jedes Denken einer „Wertsubstanz“ im Innersten, unterminiert sie ebenso wie die Figuren einer Kritik, die sich aus Wertbegriffen speist. Zwar spielt jede Operation, die eine Genealogie von Werten lesbar machen soll, in Differenzen von Signifikanten und Signifikanten, von Tauschwerten und Gebrauchswerten. Um so weniger aber wird sie der différance inne, aus der dieses Spiel von Aktivität und Passivität eines Ausdrucks seinerseits hervorgeht. Insofern wird von hier aus unabweisbar, „warum, was sich durch 'différance' bezeichnen läßt, weder einfach aktiv noch passiv ist, sondern eher eine mediale Form ankündigt oder in Erinnerung ruft, eine Operation zum Ausdruck bringt, die keine Operation ist, die weder als Erleiden noch als Tätigkeit eines Subjektes, bezogen auf ein Objekt, weder von einem Handelnden noch von einem Leidenden aus, weder von diesen Termini ausgehend noch im Hinblick auf sie, sich denken läßt.“ (16) Wo immer nämlich ein ökonomischer „Ausdruck“ Platz greift, wo immer Signifikanten und Signifikate, Tauschwerte und Gebrauchswerte in Austauschrelationen eintreten, wo immer sich ihr Spiel von Aktivität und Passivität entspinnt, muß diese différance bereits in Erinnerung gerufen wie verborgen worden sein. Und tatsächlich registriert die Logik der Darstellung, der auch Marx durch alle Stufen einer „Abstraktion“ hindurch folgen muß, diesen Aufschub, der nicht „Aufschub von ‚etwas‘“ ist, sondern als Differenz differiert und deshalb alles destruiert, was sich als „Substanz“ adressieren ließe.
Folgt man nämlich der Marx'schen Genealogie des „Wertes“, so markiert jeder der Wertausdrücke, bis hin zum „Geldausdruck“, eine Ungleichzeitigkeit in sich selbst, derer sie habhaft werden will, ohne ihrer habhaft werden zu können. (17) Zwar ließe sich, um das schweigsam gebliebene B in der Formel A = B zur Sprache zu bringen und so die „Identität“ der Formel zu verifizieren, die Wertgleichung umkehren und als B = A schreiben. Tatsächlich aber würden sich auf diesem Umweg nur die Plät-ze von „Aktivität“ und „Passivität“ innerhalb des Ausdrucks verschieben, um – in sich selbst verspätet – die Szene einer ebenso vor-ausdrücklichen Schrift wie die einer nicht-ausdrücklichen Lektüre in Erinnerung zu rufen; wie Marx festhält: „Je nachdem dieselbe Gleichung vorwärts oder rückwärts gelesen wird, befindet sich jedes der beiden Warenextreme, wie Leinwand und Rock, gleichmäßig bald in der relativen Wertform, bald in der Äquivalentform.“ (18) Diese unhintergehbare Verspätung einer doppelten, in sich differenten Lesart des „Selben“ gibt den Ausschlag. Die ideale Identität eines „Wertausdrucks“ geht aus der Differenz einer Lektüre hervor, die sich jeder Präsenz entzogen und einem dialektischen Spiel von Identität und Nicht-Identität ebenso entwunden haben muß wie Denkfiguren einer Abstraktion. Ihnen bleibt sie unausdrücklich, ungedacht und undargestellt. Die Gleichung ist nämlich nur „dieselbe“, indem sie vorwärts und rückwärts gelesen wird. In dieser Ungleichzeitigkeit sich selbst gegenüber, die einfacher Ausdruck nicht werden kann, hat sich ihr die Verräumlichung und Verzeitlichung einer Schrift vorausgeschickt, die in der Sphäre ökonomischer Ausdrücke stumm und uneinholbar bleiben muß. Diese Schrift hat jedes Denken einer „Wertsubstanz“ bereits destruiert, das in Aktiva oder Passiva operieren und rechnen würde, um Gewinn und Verlust zu kalkulieren, über Einnahmen und Ausgaben zu wachen und eine Zirkulation beherrschbar zu machen, in der jede Investition bereichert an ihren Ausgangspunkt zurückkehrt. Was nun bedeutet dies für eine Logik des „Werts“ und dessen différance des Aufschubs, die sich jedem Versuch entzieht, in einer transzendentaler Ordnung stillgestellt zu werden? Und damit für eine „Kritik“ oiko-semiotischer Systeme, ganz unabhängig davon, ob es sich bei den Zeichen, die sie zirkulieren lassen, „um mündliche oder schriftliche Zeichen, um Währungszeichen, um Wahldelegation oder politische Repräsentation handelt“? (19)
Alle Probleme, die die Genealogie einer Struktur aufwirft, scheinen sich darin zuzuspitzen, daß einer „Konstitution“ oder „Produktion“ der Status einfacher Gegebenheiten, natürlicher Voraussetzungen oder Abstammungslinien entzogen wird. Dagegen wird man festhalten müssen, daß jede Genealogie differentieller Werte im „Medium“ einer Verräumlichung und Verzeitlichung spielt, derer sie nicht inne wird. Damit wird aber nicht nur der Begriff des Zeichens fragwürdig, wie Derrida in Hinblick auf Saussure sagt; ebenso wird es die Terminologie von Tauschwerten und Werten, wie sie das Marx’sche Unternehmen bestimmen. Für Ökonomie und Semiotik gilt hier nicht weniger, was Derrida in Hinblick auf die Philosophie festhält, daß sie „in und von der différance lebt und blind ist gegen das Gleiche, das nicht identisch ist. Das Gleiche ist gerade die différance (mit a) als aufgeschobener und doppeldeutiger Übergang von einem Differenten zum andern.“ (20) Weit davon entfernt, als „Substanz“ zum strukturalen Apriori einer ökonomischen Ordnung werden zu können, spielt der „Wert“ in der différance als einem Gleichen, das nicht identisch ist, wie Derrida sagt. Alle Versuche, den „Wert“ in einer Metaphysik der „Substanz“ festzuschreiben, die Operationen von Ausgabe und Einnahme verrechenbar machen soll, leben insofern ihrerseits in und von dieser différance. Und umso blinder bleiben solche Operationen gegen das, was ihnen erlaubt, als Simulakren einer Konstitution oder Produktion in Erscheinung zu treten. Ihnen ruft das stumme „a“ der différance, das sich nur lesen, nicht jedoch hörbar machen läßt, in Erinnerung, daß kein Term, der sich von anderen unterscheidet, als genealogisches Prinzip einer Struktur fungieren kann, aus der er doch selbst erst hervorgeht. Nicht anders als der Entwurf Saussures scheint freilich auch das Marx'sche Unternehmen in einem doppelten Register zu spielen, das einen systemischen Abschluß in Szene setzen soll. Wie jener das „lebendige Sprechen“ ins Medium einer „sprachlichen“ Ökonomie, so führt dieser die „Arbeit“ in eine „politische“ als jenes Element ein, das sich wie auf Aktualitätsspitzen einer sich selbst präsenten Zeit bewegen soll: „Die lebendige Arbeit muß diese Dinge ergreifen, sie von den Toten erwecken, sie aus nur möglichen in wirkliche und wirkende Gebrauchswerte verwandeln.“ (21) Diese „lebendige Arbeit“ werde inmitten des Totenreichs ihrer Kapitalisierung den geschichtlichen Eklat einer „Revolution“ einleiten, um sich der „toten Arbeit“, die auf ihr laste, ebenso zu entledigen wie der Mißgeburten des Kapitals und dessen Tyrannei einer „toten Schrift“. Semiotisch wie ökonomisch sollen die Systeme also auch bei Marx durch eine Instanz eröffnet worden sein (und praktisch kritisierbar werden), die – einer bestimmten Zirkulation entlehnt – zum genealogischen Prinzip verdichtet wird, über das sich zugleich eine Finalisierung des Systems in Szene setzen soll. Durch alle Kristallformen hindurch, zu denen der Signifikant hier, der Tauschwert dort gerann, wird das revolutionäre Fluidum eines „Lebens“ beschworen, das der Analyse ihren kritisch-praktischen Index eintragen soll – ganz so, als werde die tyrannischen Ordnung des Todes von einem Messias durchquert, der ins Totenreich nur hinabsteigt, um wieder aufzuerstehen und sich selbst als Gebrauchswert hervorzubringen; ganz so also, als solle nunmehr „marxistisch“ widerrufen werden, was Marx über die christliche Phantasie eines „übersprachlichen Charakters“ der Wörter festgehalten hatte.
Umso mehr aber muß jeder Versuch, diese „lebendige Arbeit“ in Präsenz zu rufen, aporetisch bleiben. Wo immer sie nämlich Wirklichkeit wird, wo immer sie wirkt, sich ins Werk setzt oder verwirklicht, wird sie von „toter Arbeit“ erst dazu angehalten. Nimmt man die Marx’schen Distinktionen nämlich ernst – und alles spricht dafür, da auf ihnen nicht weniger als eine ganze „Metaphysik“ der Revolution beruht – , so geht die „lebendige Arbeit“ immer aus der „toten“ hervor, ist sie deren Derivat, deren Erfindung und möglicherweise nur deren Effekt. Ohne daß er die Konsequenzen hätte absehen können, die sich hier ankündigen, hat Marx diesen Sachverhalt selbst mit wünschenswerter Klarheit ausgesprochen: die Arbeit könne als „allgemeine Möglichkeit“ des Reichtums nur sein, wo sie „als gegensätzliches Dasein des Kapitals vom Kapital vorausgesetzt ist und andererseits ihrerseits das Kapital voraussetzt.“ (22) In dieser doppelten, dieser wechselseitigen, sich verschränkenden Voraussetzung aber zerfällt alles, was dem Spiel von „lebendiger“ und „toter Arbeit“ als gemeinsames ontisches Medium präsupponiert werden könnte. Die fiktive Setzung etwa, es hätte zu einem bestimmten Zeitpunkt eine „erste Arbeit“ gegeben, die – wie Saussures „erstes Sprechen“ – das Spiel von Kapital und Arbeit in einem alles entscheidenden „historischen“ Einschnitt eröffnet hätte, verfiele nicht nur der Aporie, ein bestimmtes Element des Systems in einen „transzendentalen Signifikanten“ seiner systemischen Genese verwandelt zu haben. Mehr noch müßte diese „erste Setzung“ ebenso verfehlen, was die Marx’sche Feier eines sich selbst präsenten Le-bens doch unablässig zu beschwören sucht: diese „erste Setzung“ wäre gerade keine Instanz einer lebendigen Präsenz, sondern Niederschrift einer irreduziblen Nicht-Präsenz, Appell an die unvordenkliche Abwesenheit von Toten. Ganz anders also, als die Marx’schen Distinktionen nahelegen, bleibt der Unterschied von „lebendiger“ und „toter Arbeit“, auf dem die Vorstellung einer revolutionären Parusie beruht, in sich undenkbar, öffnet sich in ihrem Innern vielmehr ein Chiasmus, der letzthin und auch „marxistisch“ unbeherrschbar bleiben wird.
In ihm verschränken sich Leben und Tod auf eine Weise, die von den Gespenstern umso weniger frei wird, als sie im „Leben“ ebenso wie im „Tod“ umgehen. Wo der „Wert“, der sich in den Marx’schen Gleichungen disseminiert, auf ein gemeinsames Maß „lebendiger Arbeit“ zurückgeführt werden soll, um ihn substantiell zu binden, wird allen diesen Anstrengungen zum Trotz ein gespenstisches Flüstern vernehmbar. Es disseminiert nicht nur die Architektur des Systems, sondern ebenso dessen Kritik. Wenn Derrida deshalb auf dem „Gespenstischen“ insistiert, dann trifft dies ins Innerste einer „marxistischen Ontologie“; und dies heißt: es trifft ins Innerste ökonomischer Konstellationen wie deren „Kritik“. Verfehlt wäre also, Derrida unterstellen zu wollen, seine ausdrückliche Auseinandersetzung mit den Marx’schen Gespenstern (23) sei Resultat einer späten Hinwendung, etwa eines „political turns“ der Dekonstruktion gewesen. Ganz anders: in dem, was sich als „Dekonstruktion“ hatte schreiben können, auch ohne den Namen „Marx“ auftauchen zu lassen, ist ein „gewisser Marx“ immer schon gegenwärtig, als Gespenst oder als Erbschaft, über die sich – nicht anders als mit Saussure – in metaphysisch gebliebenen Begriffen auszusprechen versucht, was sich metaphysisch nicht sagen läßt, jede Metaphysik der Präsenz vielmehr selbst in Frage stellt. So sehr, daß Derrida erklären kann, die Dekonstruktion sei in einem „prämarxistischen Raum unmöglich und undenkbar gewesen. Die Dekonstruktion hat, zumindest in meinen Augen, immer nur den Sinn und Interesse gehabt als eine Radikalisierung, das heißt auch in der Tradition ein gewissen Marxismus, in einem gewissen Geist des Marxismus.“ (24) Nicht zuletzt um diese Radikalisierung ginge es aber, hier und heute, wo alle Welt den wiederholten „Tod“ dieses Marx zum wiederholten Male beschwören will.
Eine solche „Radikalisierung“ könnte jedoch nicht darin bestehen, die Lebendigkeit des Lebens noch unhintergehbarer, substantieller oder transzendentaler zu fassen, als es Marx gelang. Ganz anders: Wenn die „Arbeit als allgemeine Möglichkeit des Reichtums“ ihrerseits das Kapital voraussetzt, wie Marx einräumen muß, dann ist sie als „lebendige Instanz“ des Systems ihrerseits immer schon von einem bestimmten „Tod“ affiziert. Und umso inniger bliebe jeder Versuch, sie in quasi-transzendentaler Weise zum Ausgangspunkt wie zum Telos des Systems zu machen, von einem metaphysischen Gestus gezeichnet. Er gibt sich nicht zuletzt im beständig wiederholenden Versuch zu erkennen, der eigenen Gespenster Herr zu werden. Zweifellos spürt Marx die Probleme, die sich hier häufen; nicht umsonst sucht er sie durch einen Rückgriff auf Aristoteles zu beheben. „Vor“ aller Wirklichkeit, so paraphrasiert er dessen Metaphysik, sei die Arbeit dynámei, Arbeit der Möglichkeit nach. (25) Tatsächlich aber ist eine Möglichkeit aristotelisch konstruierbar nur vom Wirklichen her: Was nicht wirklich werden kann, kann auch nicht der Möglichkeit nach sein, sondern erweist sich vielmehr als unmöglich. Folgerichtig muß Aristoteles darauf bestehen, „daß dem Entstehen und der Zeit nach die Wirklichkeit früher ist als das Vermögen (die Möglichkeit). Aber auch dem Wesen nach ist sie es“. (26) Einerseits leitet die Möglichkeit deshalb eine ausstehende Wirklichkeit ein; anderer-seits ist sie deshalb möglich nur unter der Voraussetzung ihrer möglichen Verwirklichung oder einer dieser Möglichkeit vorausgesetzten Wirklichkeit. Nie beschreibt die Möglichkeit deshalb anderes als das Prinzip einer Ankunft, einer Präsenz oder Parusie jenes Wirklichen in sich, das Marx doch als „tote Arbeit“ denunziert, und deshalb bedarf sie letztendlich auch eines Gottes, der sich als ens realissimum diesem Spiel von Möglichem und Wirklichem voraussetzt. Erst im Zeichen einer göttlichen Arbeit ließe sich die Möglichkeit um die Wirklichkeit eines »Ins-Werk-Setzens« (en-érgeia) zentrieren; doch gerade dieser Vorrang der Wirklichkeit hat ihre dýnamis auch von Anfang an mit ihrer eigenen Mortifikation affiziert.
Umso angestrengter sucht Marx deshalb unter dem Titel einer „lebendigen Arbeit“ etwas, was sich vom Tod ein für alle Mal freigemacht hätte, um sich in der Weisung absolutieren zu können, die Toten ihre Toten begraben zu lassen. Doch wäre dies – und erst recht im Zeichen eines „materialistischen“ Programms – selbst noch als Niederschlag eines gewissen Hegelianismus zu buchstabieren, der sich als solcher nicht durchschauen konnte. Auch die Phänomenologie des Geistes, vor allem sie, läßt die Arbeit aus einer Todesdrohung hervorgehen, der sie als Arbeit entgehen will, indem sie sie aufschiebt, traumatisch wiederholt, von der sie sich abzustoßen sucht, ohne von ihr freizuwerden. Deshalb ließ sich ihr Versprechen, den toten Gegenstand oder den Gegenstand des Todes „hinwegzuarbeiten“, auch nur im Horizont eines bestimmten „Idealismus“ abgeben. Was sich dagegen einer différance der „Werte“ zu denken aufgibt, bestünde darin, diese Figur um eine winzige, aber alles entscheidende Nuance zu verschieben; wie Derrida nahelegt: „Sie wissen, daß ich, im Zusammenhang mit der nicht-idealen Äußerlichkeit der Schrift, des Gramma, des Textes usw., nie aufgehört habe zu betonen, daß man diese nie von der Arbeit – einem Wert, der selbst einmal, unabhängig von seiner Zugehörigkeit zu Hegel, neu zu überdenken wäre – trennen darf.“ (27) Dieser „Wert“ allerdings wäre kein einfacher mehr und kann es nicht sein. Zweifellos spielt er überall eine Rolle, wo etwas zum Ausdruck kommt, sei’s in den semiotischen, den psychoanalytischen, den politischen, technologischen oder ökonomischen Systemen. Denn überall wird jenes differentielle Spiel zu durchlaufen sein, das einen Term auf einen anderen bezogen haben muß, um „Ausdruck“ zu werden. Überall muß der „Wert“ also aus einer Differenz auf sich zukommen, über die er doch nicht verfügt. Und überall wird deshalb auch eine bestimmte „Ausbeutung“ zu buchstabieren sein, die im Spiel ist, wo ein Ausdruck sich manifestiert, indem sie vielfache Namen annehmen oder Chiffren durchqueren kann.
Doch deshalb ist diese „Ausbeutung“, die Marx im widerstreitenden Austausch von Arbeitskraft und Kapital entzifferte, um ihr einen geschichtsphilosophisch singulären Platz zuzuschreiben, auf die Sphäre dieser Ökonomie keineswegs beschränkt. Ebenso wenig läßt sie sich deshalb einfach „geschichtsphilosophisch“ verorten. Was Derrida über die Philosophie festhält, erstreckt sich auf alle oiko-semiotischen Ordnungen, in denen sich differentielle Relationen als Zeichen und Ausdruck aktualisieren: sie leben „in und von der différance“, sie sind blind gegen „das Gleiche, das nicht identisch ist“. In allen diesen Ordnungen nämlich wird eine différance zur „Arbeit“ angehalten, die sich zum System keineswegs verhält wie eine dýnamis zur enérgeia. Vielmehr unterbricht sie, was immer sich ins Werk setzen ließe, um jenes Flüstern der Gespenster vernehmbar zu machen, in dem sich das Ausstehen einer Gerechtigkeit in Erinnerung ruft. Jede „Arbeit“ iteriert das Trauma der Schrift, und dies nötigt dazu, die Systeme der Herrschaft und Knechtschaft, der Unterwerfung und des Aufbegehrens anders zu entziffern.
Sollte der Begriff der „Kritik“ deshalb noch irgendeinen Sinn haben, dann den, aus der Dekonstruktion seiner eigenen metaphysischen Voraussetzungen hervorzugehen. Das Privileg eines transzendentalen Signifikanten, der das Innere einer bestimmten Ökonomie beherrschbar machen sollte, läßt sich unter solchen Voraussetzungen ebenso wenig noch behaupten wie das Privileg irgendeiner Ökonomie, sich zur hegemonialen Instanz der Gegebenheiten im Ganzen aufzuwerfen. Eine différance der „Werte“ disseminiert nicht nur die Architekturen einer „bürgerlichen“ Ordnung, sondern nicht weniger die einer „marxistischen“ Kritik, die sich im Spiel von dýnamis und enérgeia zu legitimieren suchte. Dies allerdings macht eine „Revolution“ im aristotelischen Sinn ebenso unmöglich, wie sie in unabschließbaren Intervention einer Dekonstruktion unabweisbar wird. Denn immerhin, von hier aus ließe sich auch ein gewisser Marx erneut lesen: „Die Trauer folgt immer einem Trauma. An anderer Stelle habe ich zu zeigen versucht, daß die Trauerarbeit keine Arbeit unter anderen ist. Sie ist die Arbeit selbst, die Arbeit im allgemeinen, ein Zug, anhand dessen man vielleicht den Begriff der Produktion selbst neu überdenken sollte – in dem, was ihn ans Trauma, an die Trauer, an die idealisierende Iterabilität der Exappropriation bindet und damit an die gespenstig-spektrale Spiritualisierung, die in jeder techne am Werk ist.“ (28)
(1) Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin: de Gruyter & Co. 1967, S.137.
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(2) Ebd.
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(3) Vgl. Jacques Derrida: Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva. In: ders., Positionen, Graz-Wien: Passagen 1986, S.53ff.
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(4) Jacques Derrida: Die différance, In: ders., Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen 1988, S.29.
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(5) Saussure, ebd., S.22. – Derrida, ebd., S.38.
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(6) Saussure, ebd., S.37.
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(7) Derrida, ebd.
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(8) Ebd.
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(9) Ebd., S.39.
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(10) Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, MEW Bd.3, Berlin: Dietz 1969, S.435.
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(11) Derrida, ebd., S.55f.
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(12) ebd., S.39.
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(13) Karl Marx: Das Kapital. Erster Band, Berlin: Dietz 1968, S.52.
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(14) Marx, ebd., S.63.
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(15) Derrida, ebd., S.37.
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(16) Derrida, ebd., S.34.
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(17) vgl. Hans-Joachim Lenger: Marx zufolge. Die unmögliche Revolution, Bielefeld: transcript 2004, S.67-112.
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(18) Marx, ebd. S.82.
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(19) Derrida, ebd., S.35.
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(20) ebd., S.43.
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(21) Marx, ebd., S.198.
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(22) Karl Marx: Grundrisse (Ökonomische Manuskripte 1857/1858), MEW Bd.42, Berlin: Dietz 1983, S.218.
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(23) vgl. Jacques Derrida: Marx‘ Gespenster, Frankfurt/M.: Fischer 1995.
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(24) ebd., S.149.
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(25) Vgl. Marx, ebd., S.218.
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(26) Aristoteles: Metaphysik, Hamburg: Meiner 1984, Zweiter Halbband, IX, Kap. 8, 1050a.
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(27) Jacques Derrida: Positionen. Gespräch mit Jean-Louis Houdebine und Guy Scarpetta, In: ders., Positionen, Graz-Wien: Passagen 1986, S.128f.
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(28) Jacques Derrida: Marx‘ Gespenster, ebd., S.157.
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