Emmanuel Lévinas
Antlitz und erste Gewalt
Ein Gespräch
über Phänomenologie und Ethik
Lenger: Herr Professor Lévinas, über Ihre Philosophie hat Jacques Derrida schreiben können, daß sie uns zum Erzittern bringt. Zum Erzittern, weil sie die ethische Frage nach der Verantwortung und der Güte gegenüber dem Anderen nicht aus einem Seinsverstehen ableitet, sondern ausgehend von der Verantwortung für den Anderen die Frage nach dem Sein selbst stellt und öffnet. Zum Erzittern also, weil sie in Kategorien der Philosophie kenntlich machen will, was sich dem Bau der abendländischen Metaphysik entzieht, sich durch die Geschichte des abendländischen Denkens aber stets wie eine Wunde gezogen hat. Ich spreche von der jüdischen Tradition, von der Bibel, vom Talmud, die in Ihren Arbeiten gewärtig ist und die griechische Ordnung des Denkens - und in einer bestimmten Weise ist die Philosophie griechisch - stets untergräbt, unterbricht und öffnet. Sie sind 1905 in Litauen geboren worden...
Lévinas: Ende 1905, am vorletzten Tag.
Lenger: ...und mit der hebräischen Bibel großgeworden. Können Sie etwas über die Herausforderung sagen, die die jüdische Tradition für die Philosophie darstellt?
Philosophie und Religion
Lévinas: Ich werde auf Ihre Fragen nicht in derselben Ordnung antworten, in der sie stehen.
Erstens: Philosophie kann sich nicht auf die Autorität der Bibel fundieren. Im Sprechen und im Schreiben muß beides unabhängig erscheinen. Das Biblische kann nur als Illustration erwähnt werden. Vom Versus kann keine Autorität für die Wahrheit bezogen werden. In diesem Sinn betrachte ich meine Arbeit nicht als theologisch verfaßt. Auch im Schreiben: als Autor des Philosophischen bin ich nicht immer derselbe, als der ich mir die Freude des Kommentars und der Exegese von Schriften erlaube. Das ist sehr wichtig. Natürlich zitiere ich die jüdische Tradition, aber stets so, als ob sie illustrieren könnte, was mir rein phänomenologisch als haltbar erscheint. Die Phänomenologie ist in einem bestimmten Sinn die wirkliche Quelle meiner Philosophie.
Zweitens kann man meiner Meinung nach nicht sagen, daß der Primat des Ethischen nicht philosophisch ist oder nicht philosophisch war. Der Primat der praktischen Vernunft bei Kant ist natürlich auf eine traditionelle Analyse der Vernunft gegründet. Aber das Resultat ist doch Ethik. Für den, der die Geschichte der Philosophie durchschaut, besteht das wirklich Neue bei Kant darin, daß er der praktischen Vernunft den Primat gegenüber der theoretischen verleiht. Es handelt sich um eine Einladung, anders zu philosophieren, nicht nur, sich anders zu verhalten. Es handelt sich nicht nur um eine Revolution des praktischen Verhaltens, sondern auch um eine Einladung, das Verhältnis des Theoretischen und des Ethischen auf neue Art und Weise zu betrachten.
Drittens: ich bin nicht der erste, der dies versucht hat. Man kann die Arbeit von Martin Buber oder von Gabriel Marcel nicht verwischen. Wenn man sich auf einem Boden bewegt, auf dem schon ein anderer gearbeitet hat, selbst wenn man dies nicht wußte, muß man sich an ihn erinnern. Denn man darf von ihm eine gewisse Ermutigung erwarten.
Das wäre also meine erste Antwort, das Verhältnis von Philosophie und Religion betreffend.
Lenger: Doch scheint mir die jüdische Tradition in Ihren Texten über ein nur illustrierendes Moment hinauszugehen. Zwar führen Sie das Biblische nie ein, um eine philosophische Aussage zu begründen; insofern ist der Hinweis auf die phänomenologische Quelle Ihres Denkens sehr wichtig, um mögliche Mißverständnisse zu berichtigen. Aber das Biblische spielt andererseits in Ihren Texten nicht nur beiher. Markiert es nicht einen Ort, an dem das Denken in ein Ungedachtes fragt und - mit aller Vorsicht gesprochen - sich einer Erfahrung aussetzt, aus der das Denken sich selbst erst ermöglicht?
Lévinas: Natürlich bin ich von den jüdischen Texten sehr abhängig. Ich lese die Bibel als das Buch der Bücher. Das vorbiblische Europa erscheint mir geradezu als ein Erwarten der Bibel; denn das Menschliche gibt es schon bei Homer oder Hesiod. Während die spätere Literatur, die Nationalliteratur, in der jedes Volk und jeder Men sch so etwas wie einen Grund ihres Lebens finden, mir als von der Bibel abhängig erscheint; Goethe oder Shakespeare lese ich als biblisch bedingt. In diesem Sinn kann und will ich das Verhältnis zur Bibel also keineswegs leugnen.
Aber obwohl ich aus Litauen stamme, habe ich zur jüdischen Tradition doch erst sehr spät Zugang gefunden. Sie wissen, daß Litauen innerhalb des Judentums etwas ganz außerordentliches war. Hier bildete sich ein bestimmter Typus von Judentum, der des Chassidismus, für den der Talmud zentral war. Doch ich habe sehr spät erst ein Verhältnis zum Talmud gewonnen, und ich bin kein Talmud-Spezialist. Ich fand einen außerordentlichen Lehrer in Paris - in Paris! - nach dem Krieg. Er hat mir eine andere Art und Weise nahegebracht, die jüdischen Bücher zu lesen und mir etwas abzuverlangen. Mein Verhältnis zum Talmud ist also noch europäisch, verstehen Sie, das ist sehr wichtig.
Meine rein philosophische Methode, die Sachen zu befragen, stammt dagegen aus der Phänomenologie. 1923 kam ich nach Frankreich, und in dieser Zeit stand ich unter dem großen Einfluß Henri Bergsons. Er unterrichtete zwar nicht mehr, lebte aber noch, und seine Arbeiten besaßen auch im offiziellen Unterricht großes Gewicht. Bergson habe ich nie verleugnet. 1927 ging ich dann für ein Jahr nach Freiburg. Ich habe zwei Semester bei Husserl und ein Semester bei Heidegger studiert. Und die Phänomenologie war für mich das große Ereignis, dieses Befragen des Hintergrunds, dieses Befragen des Horizonts, diese Methode, das Abstrakte zu inszenieren - so verstehe ich Husserls Methode. Und in Heideggers Arbeit sah ich von Anfang an die volle Entfaltung der phänomenologischen Methode, obgleich er nicht, wie Husserl, eine transzendentale Reduktion gefordert hat. In diesem Sinn stehe ich zur Phänomenologie. Nicht, weil ich alle thesen, alle Behauptungen, alle metaphysischen Konsequenzen teile, aber meine Art und Weise zu denken stammt von Husserl.
Was dagegen die Religion angeht: Ich weiß nicht, ob ich an die Existenz Gottes in diesem traditionellen theologischen Sinn glaube. Mir erscheint wichtiger, daß die Bibel göttlich ist.
Lenger: Die Schrift.
Lévinas: Nicht als Ereignis eines Übereignens der Schrift durch Gott. Ich glaube an die Aktualität des Seins in diesem Buch, das darüber hinaus völlig atheistisch gelesen werden kann. Das Judentum, das Sein des Judentums, das in der Erfüllung der religiösen Gebote besteht, verstehe ich als eine Art und Weise, diesem Buch einen Kontext zu geben, eine Möglichkeit, dem Buch Bestand zu verleihen und es lesbar zu halten.
Das Heilige im Menschen
Lenger: Ich frage einmal aus einer anderen Perspektive. Der furchtbare Satz Nietzsches "Gott ist tot" markiert ja kein Ereignis im Sinn eines geschichtlichen Datums...
Lévinas: Richtig.
Lenger: ...sondern meint, was sich im Grund des abendländischen Denkens ereignet: die Bewegung eines Nihilismus, der in dem Satz "Gott ist tot" in seine unabweisbare Krisis gerät. Nun gibt es in Ihren Arbeiten stets diese Figur, daß Gott in das Denken einfällt; eine Figur, die durchaus nicht-theistisch gelesen werden kann, wie Sie das soeben angedeutet haben.
Lévinas: Ein gewisser Gott und eine gewisse Art, Gott zu denken, wie sie den positiven Religionsinstanzen erscheinen kann, sind sicherlich tot. Aber es kommt auf das Göttliche anders an als in seiner Kraft und Allmächtigkeit. Ich verneine beide nicht, aber ich frage nach ihren Ursprüngen.
Nietzsches Verneinung Gottes ist durch das 20.Jahrhundert bestätigt worden. Der Gott der Versprechung, der Gott der Verheißung, der gebende Gott, Gott als Substanz - das ist natürlich nicht aufrechtzuerhalten. Aber das Erste, das Wunder des Wunders, besteht darin, daß ein Mensch für einen anderen Menschen einen Sinn haben kann.
Lenger: Ist dies der Ort, an dem Sie über den von Heidegger eröffneten Horizont einer Befragung des Seins hinausgehen?
Lévinas: Das Sein besteht in seinem Sein. Es geht dem Sein um sein Sein selbst. Das Dasein ist ein Sein, dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. Spinoza hat vom "Conatus Essendi" gesprochen. Die Anstrengung zu sein ist Geschichte, erste Geschichte. Bei Heidegger ist diese Betrachtung sehr wichtig in dem berühmten Paragraphen von "Sein und Zeit": Das Dasein hat zu sein, und weil es zu sein hat, ist es Jemeinigkeit. Das "Zu Sein" ist ihm so streng und unabweisbar auferlegt, daß es zu seiner Sache wird. Und dann fährt Heidegger fort: weil das Dasein jemeinig ist, ist das Sein ein Ich. Das ist die berühmte Stelle. Natürlich gibt es andere Stellen in "Sein und Zeit", aber hier ist das Darwinische, der Kampf ums Sein, der alltägliche Kampf gegen die anderen bezeichnet. Die Geschichte der Menschheit ist auch Krieg.
Und doch kann im Menschlichen Heiligkeit vorkommen. Einer kann für den anderen sterben. Statistisch kann ich das nicht beweisen; statistisch würden wir wohl immer auf diese Anstrengung des Seins zu sein hinauskommen. Dennoch hat das Menschliche das Heilige stets als menschlich betrachtet. Der einzige Wert, der nie bestritten worden ist, ist die Heiligkeit. Und Heiligkeit ist die Möglichkeit, das Sein-zum-tode-des-Anderen stärker zu empfinden als mein Sein-zum-Tod. Das ist kein Beweis. Aber immer, wenn so etwas vorkommt, sagen wir, das sei eigentlich menschlich. Daher habe ich versucht, im Verhältnis des Menschen zum Anderen, und zwar streng phänomenologisch, eine Stelle zu finden, an der dies erscheint. Und an diesem ausgezeichneten Ort des Hervorkommens spreche ich vom "Antlitz des Anderen". Das ist im Menschen das Göttliche, in diesem ganz konkreten Sinn, und meine ganze Phänomenologie läuft darauf heraus: das Antlitz ist die Nacktheit des Anderen, das Ausgesetzt-Sein des Anderen, das Betteln des Anderen. Selbstverständlich gibt sich jedes Antlitz eine Wichtigkeit, eine Position. Aber was ich als Antlitz des Anderen bezeichne, ist wichtiger als eine Krawatte: dieses "Ich bin da", "Ich bin derjenige", dieses Ausgesetzt-Sein, Exponiert-Sein. Und daher liegt im selben Augenblick im Antlitz ein Befehl. Ich empfinde es immer als Befehl, als Gebot, und zwar als das erste Gebot: "Du sollst nicht töten!"
Dazu kann ich Ihnen einen sehr schönen Midrasch erzählen. Ein Midrasch ist die Art und Weise, aus dem Sinn eines Textes einen ganz anderen Sinn, einen tieferen Sinn zu finden und dann auf den ersten Sinn zurückzukommen. Es geht in diesem Midrasch um die Frage, wie die Gebote auf den zwei Tafeln angeordnet waren. Nun, ich habe einmal ein Kloster besucht, dort standen auf der einen Tafel die ersten drei, auf der zweiten die anderen sieben Gebote. Das hat natürlich einen Sinn. Denn die ersten drei bestimmten das Verhältnis von Menschen zu Gott, die anderen sieben das Verhältnis zwischen den Menschen. In einem zweiten Fall standen auf jeder der beiden Tafeln alle zehn. Merkwürdig, nicht wahr? Aber es hat doch einen Sinn. Denn der Dekalog ist immer eine Welt, und hier gibt es zwei Welten. Die Weltlichkeit der Welt ist nicht einzig. Man kann sie ganz anders lesen. Schließlich eine drit6te Möglichkeit, die Gebote anzuordnen: auf der einen Tafel fünf und auf der anderen Tafel fünf. Jetzt kann man sie auch horizontal lesen, und dann liest man: Ich bin der Gott, der Dich aus Ägypten herausgeführt hat, Du sollst nicht töten! Als ob die Einzigkeit Gottes, der Sinn Gottes, der mich aus Ägypten herausgeführt hat, in dem Gebot besteht: Du sollst nicht töten! Verstehen Sie? Ich fand das sehr schön.
Das erste Sprechen
Lenger: Der Gott, der hier seinen Sinn offenbart, ist jedoch immer noch der positive Gott, der Gott der Allmächtigkeit, der Gott einer obersten Instanz. Von Nietzsche her gesehen also der Gott, dessen Denken die Bahnen des Nihilismus vorschreibt und in seine verzweifelte Krisis treibt.
Lévinas: Dieser Gott hat noch eine Stimme. Er spricht wie mit einer stummen Stimme, und dieses Sprechen wird gehört. Aber dieser Gott ist der tote Gott Nietzsches. Er hat sich in Auschwitz das Leben genommen.
Der andere Gott dagegen, der statistisch nicht beweisbar ist und allein als Faktum der Menschlichkeit vorkommt, ist ein Protest gegen Auschwitz. Und dieser Gott erscheint im Antlitz des Anderen. In diesem Sinn fällt Gott ins Denken ein, aber in ein streng phänomenologisch verfaßtes Denken. Und das ist Ethik. Die Sinnhaftigkeit, der Sinn als solcher rührt vom Antlitz des Anderen her. Man sagt "Guten Tag!", bevor man weiter miteinander spricht. Der gute Wunsch eröffnet alles weitere. In einem bestimmten Sinn ist das Denken, das Cogito selbst, immer schon Sprechen. Hier handelt es sich nicht um die psychologische Frage, ob es ein Denken ohne Sprechen geben kann. Selbst wenn es so etwas gibt, will sich das Denken sprechen. Und im Sagen ist man dem Anderen schon begegnet.
Lenger: Dies führt mich zu Husserl zurück. Husserl hatte versucht, auf dem Weg der transzendentalen Reduktion ein reines Schauen, ein reines Denken zu isolieren, das von aller Sprachvermittlung abgesetzt ist.
Lévinas: Das isoliert ist, ja.
Lenger: Indem Sie nun phänomenologisch zeigen, daß das Sprechen des Anderen dem Cogito vorangeht und jeden möglichen Sinn, jedes mögliche Denken erst eröffnet, indem Sie also zeigen, daß das Denken im Ausgang vom Anderen anhebt, haben Sie der transzendentalen Reduktion Husserls die Gefolgschaft verweigert.
Lévinas: Ja. Hier folge ich ihm nicht, und Heidegger entwickelt das auch bereits ganz anders als Husserl. Jedenfalls steht das Sprechen mitten im Denken. Viel wichtiger als die transzendentale Reduktion bei Husserl ist für mich daher der phänomenologische Begriff der Intentionalität. In dem Sinn, daß es nicht nur eine Intentionalität des Theoretischen gibt, sondern daß auch das Werkleben, das Erkennen des Schönen im Leben, das Wollen des Guten intentional ist. Und zwar nicht nur - wenn Sie Husserls Technik ein wenig kennen - brentanisch, nicht nur als Unterlage, als Fundierung des Geistigen.
Husserl selbst hat sein ganzes Leben an diesem Punkt gezögert. Er hat Brentano überwunden, indem er die Intentionalität auch nicht-theoretisch verstanden hat. Aber er ist doch wieder auf Brentano zurückgekommen, wenn er eine geistige Intentionalität verlangt, die man übrigens auch nachher des öfteren bei ihm finden kann. Sehen Sie, das ist bei Heidegger anders und besser entwickelt. Die "Zuhandenheit" Heideggers auf den ersten Seiten von "Sein und Zeit" meint, daß es für Heidegger ein bloßes Hinsehen nie geben wird. Er hat der Hand einen ganz anderen Zugang zum Sinn eröffnet als dem Schauen, dem Hinsehen. Das war für uns sehr wichtig, als wir "Sein und Zeit" gelesen haben.
Denn was ich vom Antlitz des Anderen sage, ist auch eine Art zu denken, in der das Antlitz nicht im Gesehen-Werden erscheint. Zwar kann man das andere Gesicht als ein Porträt oder als eine Plastik ansehen. Aber es gibt hier zwei Worte: Visage, das heißt Gesicht; und devisager: das bedeutet, jemanden anzusehen, aber gerade in dem Sinn, das Gesicht gleichsam wegzuschieben. Im Deutschen kann man das nicht ausdrücken. Aber das alles korrespondiert mit Heideggers "Zuhandenheit". Ich will Ihnen erzählen, wie man "Sein und Zeit" in den zwanziger Jahren gelesen hat, als es erschien. Alle haben in den Universitäten darüber gesprochen, die Husserlianer waren untreu geworden und hatten Verrat geübt. Und hierbei spielte die "Zuhandenheit", die begriffliche Stärke der "Zuhandenheit" eine große Rolle. Sie war in meiner Umgebung viel wichtiger als die Thematisierung des Seins, diese mittlerweile berühmt gewordene ontologische Differenz. Zwar war die Unterscheidung zwischen Sein und Seiendem stets sehr wichtig. Aber wichtiger noch war, daß es verschiedene Regionen des Seins gibt, daß sie nicht nur wesentlich verschieden, sondern verschieden in ihrem Sein sind. Das ist eine Multiplizität, und gerade diese Mehrhaltigkeit des Seins hat viel mehr erschüttert als die ontologische Differenz, die später so wichtig gewordene Thematisierung des Seins, das sich im Seienden immer entzieht. Diesen Gedanken gab es bei Heidegger schon ganz zu Anfang.
Die Einzigkeit
Lenger: Eine Alternanz kündigt sich bei Heidegger an, die über das phänomenologische Universum Husserls hinausgeht. Dennoch haben Sie ja im Denken des Anderen nicht nur den Horizont Husserls, sondern auch das Denken des Seins bei Heidegger transzendiert.
Lévinas: Transzendiert? Nein, ich würde sagen: verlassen. Natürlich, das Phänomenologische im strengen Sinn genommen meint immer eine Korrelation zum Geistigen, Korrelation zum Bewußtsein, und in diesem Sinn bleibt es immer immanent. Bei Husserl ganz sicher. Nach der Reduktion ist jede Transzendenz Transzendenz in der Immanenz. Das Metaphysische besteht in dieser Immanenz, in diesem Darin-Sein. Bei Heidegger dagegen ist das Sein bereits transzendent, das ist die Differenz und eigentlich das ganz Neue. Und daher ist es keine originäre Schuld, innerhalb der Phänomenologie zu transzendieren.
Aber das Verhältnis zum Anderen als nicht-begriffen oder als nicht-umarmt, wie ich es phänomenologisch erscheinen lasse, rührt daher, daß dieses Verhältnis kein Bejahen und kein Moment des Wissens ist. Die Andersheit, in der der Andere erscheint, erscheint als Befehl. Und worüber ergeht dieser Befehl? Dieser Befehl ist ein Anrufen, ein Anruf zur Verantwortung. Er ist ein erstes Sprechen, das nicht nur Antwort, sondern zunächst Verantwortung verlangt. Das Verhältnis zwischen mir und dem Anderen ist kein Wissen, kein Erkennen des Anderen, sondern geht von seiner Schwäche aus. Es besteht darin, von seinem dem-Tod-Ausgesetzt-Sein berührt zu sein. Das ist das Verhältnis zum Anderen. Und daher gelange ich dazu, die transzendentale Subjektivität nicht als hauptsächliches Moment von Subjektivität zu betrachten, das "Ich denke" nicht als stolzen Herrn des Gegebenen anzusehen.
Lenger: Scheint hier auf, was in den biblischen Texten Demut genannt wird? Begründet sich die ethische Subjektivität im Unterschied zur transzendentalen in einer Geste der Unterwerfung, die vom Antlitz des Anderen geboten wird?
Lévinas: Meine Analyse führt mich des weiteren, und das ist sehr wichtig, auf eine Einzigkeit im Ich. Denn der Geliebte ist einzig. Die Intentionalität des Geliebten, nicht die des Individuums, ist Einzigkeit. Denn das Individuum steht noch im Genus. In der Liebe dagegen ist der Andere außerhalb eines Genus. Und ich, der ich das anerkenne, bin auserwählt. Auserwählt zu sein bedeutet daher im Unterschied zum transzendentalen Bewußtsein extreme Passivität. Denn das transzendentale Bewußtsein, das Ich, ist immer Akt. Das Auserwählt-Sein dagegen, die Einzigkeit, ist extreme Passivität, ist Ergebenheit. Ich muß geben, aber ich bin ergeben, und diese Ergebenheit der Verantwortung bedeutet: wenn ich nicht der einzige bin, dem die Verantwortung zugehört, dann ist sie keine Verantwortung. Könnte man Verantwortung delegieren, so wäre sie nicht Verantwortung. Der Einzige, dem sie zufällt - darin besteht Ethik. Und in diesem Sinn behandelt meine Phänomenologie nicht die transzendentale Subjektivität, sondern nimmt ihren Ausgang von der Analyse des Antlitzes.
Die Verantwortung, die diese Analyse offenbart, ist des weiteren nie ausgestanden, nie erledigt. Wenn man über einen Menschen sagt, er sei erledigt, oder wenn Ärzte über einen Patienten sagen, er sei verdammt, dann ist das nicht menschlich. Dieser Befund, nicht quitt zu sein, meint in "Totalität und Unendlichkeit" eben nicht die große Ziffer, nicht die schlechte Unendlichkeit Hegels. Hegels schlechte Unendlichkeit, das Etcetera, ist das Immer-Weiter-Führen, und wenn man immer weiter führen muß, denkt man bereits den Gedanken der Unendlichkeit. Aber das Verhältnis zum Anderen ist nicht immer dasselbe; Hegels Etcetera verschleudert die Unendlichkeit, die darin steckt. Jeder Schritt, der nicht zuende ist, ist nicht derselbe Schritt. Er ist immer der andere Schritt und immer nicht-erledigt. In diesem Sinn erscheint mir der Begriff der Unendlichkeit in dem Verhältnis zum Anderen, und Einzigkeit auf sich zu nehmen bedeutet daher auch nicht, die Einzigkeit zu konstatieren. Sie ist immer das Tun, das Schuldig-Sein. Sie ist eine Schuld ohne Verbrechen. In einem gewissen Sinn gibt es für die Verantwortung also überhaupt keine Vergangenheit. Oder sie kommt aus einer Vergangenheit, die nie Gegenwart war. Das wird dann für die Philosophie der Zeit sehr wichtig.
Heideggers ontologische Differenz kann man also nicht vergessen. Aber meine Phänomenologie macht sie nicht zur Güte der Weisheit. Der Andere, die Andersheit, die Differenz zwischen mir und dem Anderen ist entscheidend: mein Essen ist wichtig, doch das Essen des Anderen ist wichtiger. Und das steckt auch in der religiösen Tradition Europas, im Verhältnis von Judentum und Christentum. Rosenzweig war für dieses Verhältnis so wichtig wie der Besuch des Papstes in einer jüdischen Synagoge.
Die Spur des Anderen
Lenger: In einem Aufsatz haben Sie dieses Verhältnis zum Anderen durch die Metapher eines Briefes und einer schriftlichen Korrespondenz beschrieben. Man kann die Bedeutung eines Briefes verstehen, ein Graphologe oder Psychoanalytiker kann vielleicht darüber hinaus an der Schreibweise des Briefes die eigentliche und verborgene Intention des Absenders enthüllen. Was aber nach allen Enthüllungen des Verborgenen bleibt, weder verborgen noch enthüllbar, sei die "Spur", Spur des Anderen.
Lévinas: Die Spur des Anderen ist erstens die Spur Gottes, der nie da ist. Er ist schon vergangen. Daher verwende ich die dritte Person: Er. Darin liegt eine Unmöglichkeit, darin hat Er Sie sich überlassen, indem Er sagt: Es gibt keine Gnade. In diesem Sinn ist Er immer abwesend. Und das betrachte ich als Spur des Anderen im Menschen. In diesem Sinn ist jeder Mensch die Spur des Anderen. Der Andere ist Gott, der gerade in Gedanken einfällt.
Er fällt ein. Es wird also nicht alles deduziert. Wäre alles deduzierbar, wäre der Andere in das Ich eingeschlossen. Die Spur ist also Begriff für das, was nicht deduzierbar ist. Was bleibt? Es bleibt nur eine Spur, so als ob jemand dagewesen ist. Aber das beginnt mit dem Begriff eines Gottes, der ein "Er" ist.
Lenger: In einem Brief lese ich, in einem Antlitz lese ich auch, was nicht zum Sprechen gebracht werden kann. Ist das erste Sprechen also eine erste Schrift? Ich spiele hier auf die Frage nach der Schrift an, weil sie in der platonischen Tradition des Wissens ja die Rolle des gefallenen Engels spielt.
Lévinas: Ja, ja.
Lenger: In dieser Tradition, in der auch Husserl steht, muß das Phänomen in die Präsenz der mündlichen Rede gezogen werden...
Lévinas: Ja, richtig.
Lenger: ...um Phänomen zu sein, während die Schrift so etwas wie ein schlechter Ersatz ist, der reduziert werden muß. Nun haben Sie vorhin eine "stumme Stimme" erwähnt, als Sie über das erste Sprechen sprachen. Denken Sie, daß dieses erste Sprechen als verfemte Schrift gedacht werden kann?
Lévinas: Die Schrift ist außerordentlich, weil sie kompliziert ist und kein Original kennt. Sehen Sie, diese Bücher hier sind Kommentare dieses einen Buchs. Und wollte man diesen Kommentar kommentieren, müßte man ebenso viele neue Bücher schreiben.
Man darf das Antlitz des Anderen also nicht mit dem Gesicht gleichsetzen. Das Gesicht ist nicht das einzige Antlitz. Eine Hand von Rodin - das ist Antlitz. Oder denken Sie an die Stelle in dem Buch des russischen Autors Wassilij Grossmann, der zunächst Kommunist war und später, völlig enttäuscht, den Hitlerismus mit dem Stalinismus gleichgesetzt hat. Wurde jemand unter Stalin eingesperrt, schnitt man ihm zunächst die Knöpfe von der Hose ab, ein erster Akt, um die Menschen zu erniedrigen. Und da gibt es diese Stelle in einem Roman, wo die Verhafteten an einem Schalter in einer Schlange stehen. Sie sehen nur ihre Rücken; aber auf dem Rücken gibt es alles: Freude, Furcht, Hoffnung, Verzweiflung. Der Rücken wird hier zum Antlitz. Diese Spur des Anderen ist also eine ganz andere Spur als die, mit der es Sherlock Holmes zu tun hat. Was tut Holmes? Er sucht, er deduziert, er rekonstruiert, was passiert ist. Aber wenn alles deduzierbar ist, gibt es keinen Anderen. Holmes lebt in einer Welt, in der es keinen Menschen, keinen Nächsten gibt.
Das Griechische im Biblischen
Lenger: An dieser Stelle liegt natürlich die Frage nahe, wie im Ausgang von einer Phänomenologie des Anderen das Soziale und im weiteren das Politische zu denken sind.
Lévinas: Ja, insofern ist das Verhältnis zum Anderen Sozialität, der Ursprung des Untereinanders, des Unter-Anderen-Seins. Und daher behaupte ich in der Konsequenz meiner Analyse, daß das Untereinander-Sein, also das Geschieden-Sein, mehr ist als das Eins-Sein. Also nicht wie bei Plotin, wo die Gemeinschaft der Menschen in Zweiheit eine Degradation des Eins ist. Ganz im Gegenteil. Gerade dieses Zu-Zweit-Sein ist das Menschliche, das Geistige.
Und was das Verhältnis zur Politik angeht - gewiß verlangt die Ethik der ersten Erfahrung eine Verdammung der Politik, eine Ausschließung der Politik. Aber die Frage ist doch komplizierter. Alles, was wir bisher sagten, betraf das Ich und den Anderen, also zwei. Aber der dritte ist auch da. Also stehe ich zum einen und zum anderen. Denn der dritte ist auch ein Anderer. Zwar bin ich dem einen alles schuldig. Aber wenn der eine dem anderen ein Unrecht zufügt, muß ich vergleichen. Und Einzigkeit zu vergleichen ist der Ruf an das Wissen. Das Wissen kommt hinein, und bei all dem ist ja vorausgesetzt, daß wir zusammen sind, in der Gegenwart sind, und Gegenwart ist Raum. Sie müssen zusammen sein im Raum, sie müssen betrachtet werden. Darin besteht eigentlich der Ruf an Griechenland. Hier kommt das Griechische in das Biblische hinein. Man muß untersuchen, man muß vergleichen, man muß beurteilen. Die Frage des Urteils tritt hier auf. Bisher gab es kein Urteil, sondern nur Vor-Urteil. Und in diesem Sinn basiert der Staat auf dem Ungenügen des Ethischen. Aber - und das ist wichtig - er beruht auf dem Ethischen, weil ich dem Dritten auch schuldig bin. Gewalt der Gerechtigkeit, rational bedingt. Das Griechische kommt hier ganz herein, die griechische Politik hat in diesem Sinn einen Sinn. Sie ist nicht Gewalt ohne Grund. Sie ist Gewalt der Berechnung, Gewalt eines Denkens des Seins. Das Denken des Seins ist ein Denken der Gegenwart, das heißt des gegenwärtigen Seins zusammen, des Zusammen-Seins im Raum. Der Raum steht dahinter und die Welt als Raum. Das ist ein wichtiges Moment in der Zeitlichkeit.
Wissen beruht also auf Gerechtigkeit; der Ruf an das Wissen ist das Verlangen nach Gerechtigkeit. Denn bis jetzt war keine Gerechtigkeit! Bisher war, christlich gesprochen, nur Karitas oder Misericordia, ein Wort, das ich übrigens liebe. Oder im Judentum heißt der Gott immer der barmherzige, hebräisch rachaman, und das bezeichnet den Ort, wo das Kind bei der Mutter liegt, also Gott ist hier als Frau gedacht. Erstens ist das Wissen also ein Aufruf oder das Bedürfnis nach einem Staat, dessen Gerechtigkeit immer noch in Frage steht. Und zweitens: hinter der Gerechtigkeit gibt es noch ein menschliches Verhältnis, auch für die Verdammten. Ich will Ihnen wieder ein Midrasch erzählen. In der Bibel steht: Du sollst das Antlitz des Anderen nicht ansehen. Und zwar in dem Sinne: wenn jemand vor dem Tribual steht, fragt man nicht, wie seine soziale Lage ist. Da wird objektiv betrachtet. Man darf den Reichen nicht anders beurteilen als den Armen und auch den Armen nicht anders als den Reichen. Man darf den Armen auch nicht deshalb schon als gerecht ansehen, weil er arm ist. Aber dann gibt es die andere Stelle: Gott wird dir sein Gesicht zuwenden. Also darf man das Gesicht einerseits nicht ansehen und darf es andererseits doch ansehen? Sicher. Vor dem Urteil nicht, nach dem Urteil ja. Das ist die Antwort im Text der Talmud-Bibel. Und in diesem Sinn meine ich, gibt es zu tun, auch nachdem der Richter sein Urteil gesprochen hat. Gerechtigkeit ist erste Gewalt, sie ist sicher Gewalt. Aber sie ist nicht das Antlitz. Sie ist immer das Nachdenken über das Antlitz des Anderen, und das ist immer eine Gewalt gegenüber dem Ersten.
Zukunft ohne Subjekt
Lenger: Der Fluchtpunkt der Verantwortung, in die ich durch das Gebot des Anderen gestellt bin, besteht in Ihrem Denken darin, den Platz des Anderen einzunehmen, stellvertretend für den Anderen zu sein. Andererseits tritt der Andere, die Andersheit des Anderen jedoch nie in die Präsenz ein, sondern ist ihr stets entzogen oder abwesend. Der Andere ist stets vorübergegangen.
Lévinas: Ja, das ist sein Geschäft. Keine Reziprozität! Hier habe ich auch Kritik an Buber. Bei Buber steht das Ich zum Du wie das Du zum Ich. Durch den Staat, durch den Citoyen, durch das Verhältnis des Bürgers zum Bürger kommt die Gerechtigkeit und damit Reziprozität herein. Aber man muß sie von der Karitas, von der Misericordia unterscheiden. Karitas, die reziprok ist, ist keine Karitas. Wir leben als Bürger ganz konkret, und es ist nur gerecht, wenn der eine den anderen vergißt. Aber in der ersten, vorgängigen Bewegung bin ich alles schuldig.
Lenger: Doch wenn der Andere in seiner Andersheit stets vorübergegangen ist, kann ich seinen Platz nie einnehmen. In jenem Raum, in dem ich die Gegenwart versammle, ist er nicht gegenwärtig, sondern Abwesen und Anwesen nur als Spur.
Lévinas: Nein, so steht die Sache nicht. Blanchot sagt, Zusammen und Noch Nicht. Das kann nie zu Ende gedacht werden: Zusammen und Noch Nicht. Das ist ein Ausgang durch Worte, aber eigentlich ist dies das Phänomen, daß ich für den Anderen sterben kann. Sicher, er ist vorübergegangen, aber auch: er überlebt, er lebt weiter, er ist in diesem Sinn die Zukunft. Er ist nicht vorbeigegangen in seine Vergangenheit. Er kommt immer aus einer Vergangenheit, die nie meine Gegenwart war. Und daher gibt es eine gewisse Anarchie in dieser Vergangenheit.
Lenger: Die Wendung des Noch Nicht, die Sie bei Blanchot zitiert haben - eröffnet sie nicht auch einen möglichen gemeinsamen Zeitraum von Zukunft? Einen Zeit-Raum des Entgegenkommens?
Lévinas: Ja, aber diese Zukunft ist nicht als Zukunft eines Subjekts gedacht. Im Gegenteil. Sie wie ich durch meine Verantwortung in die Vergangenheit der Menschheit eingehe, so gehe ich durch die Misericordia kauch in die Zukunft der Menschheit ein. Ich nenne es immer Zu-Gott. "Adieu" - das französische Wort "Adieu" ist sehr gut. Zu-Gott. Wenn man das zu Ende denkt, ist Gott Zukunft. Gott ist Zeit. Nie erreicht, aber immer näher gekommen. Das sind gültige Strukturen der Zeitlichkeit und Gottes. Wir sind nie quitt, die Sache ist nie erledigt. Und obwohl sie nie erledigt ist, ist sie immer ganz neu. Für das Beginnen der Zukunft gibt es zwei Worte: avenir, das ist das, was ankommen wird, und future. Gott ist future, jedenfalls so, wie ich ihn als Anderen denke. Kein Gott, der ein happy end versichert. Devotion ohne Versprechen, aber das Gute, verstehen Sie? Ich gebe dem Guten eben dadurch einen ganz anderen Sinn als den einer Ergänzung des Seins, als einer Ewigkeit des Nicht-Vergehenden. Das Gute besteht gerade in der Misericordia für den Anderen.
Lenger: Gestatten Sie eine letzte Frage. Es gibt in der jüdischen Tradition die Frage des Messianismus, einen Raum der Erwartung und der Vorbereitung...
Lévinas: Ja, aber das ist für mich durch Auschwitz in Frage gestellt. Das muß ich einfach und ganz persönlich sagen. Man muß den Sinn der Erlösung eben anders denken. Das nannte ich die Devotion ohne Versprechen. Die Liebe zu Gott ist die Liebe zur Thora. Das heißt, die Anerkennung der Güte ist wichtiger als die Liebe zu Gott. Oder die wirkliche Liebe zu Gott ist die Liebe zum Guten.
Lenger: Herr Prof. Lévinas, ich bedanke mich für dieses Gespräch und ganz besonders für Ihr Zuvorkommen, meine Fragen in deutscher Sprache beantwortet zu haben.