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Hans-Joachim Lenger
Maschinerien des Blicks

Vom lumen naturale zur symbolischen Ordnung und darüber hinaus

 

Wo sich das perspektivisch geordnete Feld eines Sehens von einem Punkt aus organisiert, der diesem Feld notwendig entzogen bleibt, situiert sich das „Subjekt“ dieses Sehens in tiefer Zweideutigkeit. „Dass die Welt zum Bild wird“, notiert Heidegger, „ist ein und derselbe Vorgang mit dem, dass der Mensch innerhalb des Seienden zum Subjectum wird.“ (1) So sehr das eine sich jedoch im anderen abstützt, Subjectum und Weltbild einander bedingen, so sehr handelt es sich um eine Asymmetrie, in die beide versetzt sind: um die Verschränkung einer Konstellation, in der sich Welt und „Subjekt“ unablässig schneiden. In Schnittstellen jedoch, aus denen beständig Trugbilder aufsteigen: Aus Prinzipien einer geometralen Konstruktion hervorgehend, verwandelt sich die Welt einerseits in ein Bild – in jenes Weltbild, mit dem die Welt ihrerseits zur Vorstellung wird. Der Platz des „Subjekts“ dagegen fällt aus dem Sichtbaren der Welt heraus. Was immer ihm sichtbar wird, gruppiert sich wie um einen „blinden Fleck“, in dem diesem „Subjekt“ sein „In-der-Welt-Sein“ entzogen bleibt. Eine Seinsverfehlung also, die im Sichtbaren jedoch ebenso wiederkehrt, wie sie am Platz des „Subjekts“ insistiert und dessen Begehren freisetzt. Wie nämlich, so lautet seither die Frage, könnte ein „Subjekt“, das sich nicht hat, werden, wie es ist? Wie könnte, wo Es war, Ich werden? Auf diese Paradoxien der Moderne allerdings antworten die Paradoxien ihres Begehrens.

Jacques Lacan hat sie in einer Anordnung zugänglich gemacht, in der sich ein Gefüge tiefgreifender Instabilitäten freilegt. (2) Von nicht weniger spricht sie als von Asymmetrien, die sich einer unabschließbaren krísis aussetzen. Keineswegs auf bildtheoretische Fragen zu reduzieren, erfasst diese krísis vielmehr die Ontologie eines „Subjekts“, das sich durch tiefe Haltlosigkeit auszeichnet. Denn was dem Ego Halt oder Anhalt verleiht, geht keineswegs aus ihm selbst hervor. Was es in der Welt sein lässt, genauer noch: das Wie dieses In-der-Welt-Seins, entzieht sich ihm in konstitutiver Weise. Um in die Welt eingelassen zu sein, um sich im mehrfachen Wortsinn in ihr zu „be-finden“: im Sinn einer Befindlichkeit ebenso wie eines Sich-Anfindens und eines Sich-Erfindens, muss sich ihm der Seinsbescheid in einer unvordenklichen Passivität zugestellt haben, über die sein Sehen keine Macht hat. Denn dieses Subjekt muss sich in einem Licht bereits situiert haben, von einem Licht in die Welt eingelassen worden sein, noch bevor es die Augen aufzuschlagen vermag. Was sich zur geometralen Anordnung einer Perspektive aufspreizt, die das Licht als Gerade konstruiert, wird von diesem Licht immer schon durchlaufen und disloziert. Es durchquert jede geometrale Anordnung und unterbricht deren Verfügungen. Hart geht Lacan deshalb mit den Philosophen ins Gericht: „Das Wesentliche an der Beziehung zwischen Schein und Sein, zu dessen Herrn der Philosoph bei seinen Eroberungen auf dem Feld des Sehens sich so leicht aufschwingt, ist anderswo. Es ist nicht in der Geraden, es ist im Lichtpunkt – im Strahlpunkt, im Rieseln, dem Feuer, dem Springquell der Reflexe. Zweifellos pflanzt sich das Licht in der Geraden fort, aber es bricht sich, es diffundiert, es übergießt, es füllt – denken wir daran, dass unser Auge eine Schale ist – aus der das Licht auch überquillt.“ (3)

Der Lichtpunkt, das Rieseln, das Feuer, der Springquell der Reflexe oder das Überquellen der Schale also: die Gabe, die sich hier abzeichnet, quert jede geometrale Optik. Sie schlägt sie mit einer Zäsur, die in ihr als Wundmal der eigenen Genese vernarbt: als Unvordenkliches in ihr umgeht und wiederkehrt. In dem, was Lacan das „Tableau“ nennt, um das Eingelassen-Sein in die Welt zu markieren, macht dieses „Subjekt“ folgerichtig selbst nur einen „Fleck“, wie er aus Techniken der Mimikry hervorgeht. Und so sehr Lacan diese Mimikry auch an Phänomenen der Biologie illustriert, so wenig handelt es sich um eine biologische Gegebenheit; niemand lässt daran weniger Zweifel als Lacan selbst. Der „Fleck“, auf dem er insistiert, ist Residuum eines Niederschlags, in dem sich eine ontologische Differenz einzeichnet, die das „Subjekt des Weltbilds“ ebenso situiert wie erschüttert.

Umso weniger besteht deshalb Aussicht, dieser krísis in Begriffen einer „Anthropologie des Bildes“ Einhalt gebieten zu wollen, die sich auf den menschlichen Körper stützen soll, wie das etwa Hans Belting das vorschlägt. (4) In diesem Körper nämlich den authentischen, originären, nicht hintergehbaren „Ort der Bilder“ zu identifizieren, von dem sie ausgehen und zu dem sie zurückkehren sollen, unterstellt, dass dieser Körper in origine der chiastischen Verschränkung von Geometrie und Licht entrückt wäre. Tatsächlich jedoch ist er in ihr selbst erst in Erscheinung getreten. Ihr verdankt er seine Genese, in ihr situiert er sich, tritt aus ihr hervor und setzt sich mehr noch selbst aufs Spiel. Paradoxerweise widerruft die bildtheoretische Konstruktion Beltings nämlich einen Stand von Einsichten, den wir seiner eigenen Disziplin verdanken. Bereits Erwin Panofsky sprach von der „zweischneidigen Waffe“, die die neuzeitliche Welt der Perspektive ebenso eröffnet wie heimsucht, ebenso freilegt wie destruiert: „sie schafft den Körpern Platz, sich plastisch zu entfalten und mimisch zu bewegen – aber sie schafft auch dem Lichte die Möglichkeit, im Raum sich auszubreiten und die Körper malerisch aufzulösen.“ (5)

Um diese Kraft einer Auflösung allerdings wird es gehen. Und unabweisbar wird hier die Frage nach dem lumen naturale, jenem natürlichen Licht, dessen Medialität bereits im 17. Jahrhundert eine irritierende Vieldeutigkeit aufweist. Bei Descartes perforiert dieses Licht das Feld des Sichtbaren ebenso, wie es unverzichtbare Appellationsinstanz ist, die dem Cogito seine metaphysische Schlüsselstellung erst gewährt. Um nicht weniger geht es dabei als um die Beziehungen, die das Cogito zum Sum, das Ich denke zu seinem Bin unterhält. Denn der Rückschluss, dass die denkende Substanz eines Cogito zweifelsfrei existiert, indem sie sich ihrer selbst radikal zweifelnd in-newird, geht aus diesem Cogito keineswegs hervor. Nicht die Cogitatio nämlich macht den Existenzbeweis zwingend. Wie Descartes ausdrücklich erklärt, bedarf es dazu jenes lumen naturale, das ihm erst gezeigt haben wird, „dass daraus, dass ich zweifle, folgt, dass ich bin.“ (6)

Dieses „Zeigen“ allerdings ist entscheidend. Nicht gelingt der Cogitatio selbst jener Sprung in die Existenz eines Sum, ohne dass die Medialität natürlichen Lichts eingesprungen wäre. Dem Feld des Sichtbaren entzogen, erstattet es dem Cogito, was ihm an Sein mangelt. Erst in der Medialität dieses lumen naturale kann sich das Cogito die metaphysische Würde absoluter Selbstgegenwart, die Bestimmung eines Sum erteilen. Dieses Sum, dieses Bin eines Ich trägt insofern von Anfang an supplementären Status. Noch bevor es dieses natürliche Licht in Anspruch nimmt, ist das Cogito von ihm in Anspruch genommen. Dies aber hat dessen Selbstgegenwart im selben Moment bereits erschüttert, in dem es sich ihrer Evidenz versichern wollte. Worin also besteht die cartesische Medientechnik, indem sie das lumen naturale ins Spiel bringt? Im Feld des Sehens schlägt sie sich vor allem als Abschattung, als Kontur und Tiefe nieder, in denen die Dinge real werden; in gewisser Weise also trägt sie sich dem Sehen als Technik einer Unterbrechung ein, die das Gefüge trügerischer Vorstellungen perforiert und so in der Instanz einer göttlichen Wahrheit verankert; wie Descartes schreibt: „Und, wahrhaftig, unter all diesem ist nichts, was nicht vermöge des natürlichen Lichts augenscheinlich wäre, wenn ich nur sorgfältig darauf achte. Nur wenn ich weniger achtgebe und die Bilder der sinnlich wahrnehmbaren Dinge den Scharfblick meines Verstandes blenden, so besinne ich mich nicht leicht darauf, weshalb die Vorstellung eines vollkommeneren Wesens, als ich es bin, notwendig von einem in Wahrheit vollkommeneren Wesen ausgehen muss. Und darum möchte ich weiter fragen, ob ich selbst, der ich diese Vorstellung habe, existieren könnte, wenn kein solches Wesen existierte.“ (7)

Erst das lumen naturale also, das uns der Existenz eines vollkommeneren Wesens versichert, schützt die Augenscheinlichkeit, den Scharfblick des Cogito davor, sich von Bildern blenden zu lassen, die von den Gegenständen geworfen werden. Erst dieses lumen versieht Gesehenes wie „Subjekt“ mit jenem Realitätsindex, der sie auf ein Jenseits sinnlich wahrnehmbarer Dinge verweist. In dieser Funktion beruht die insistierende Transzendenz eines „Zeigens“, und allemal ist es theogenen Zuschnitts. Der cartesischen Lehre folgend, dass keine Wirkung ihre Ursache an Größe übersteigen kann, erweist sich das lumen als Gabe Gottes, dessen Existenz dem Cogito zugleich die Gabe seines Sum erteilt.

So verankert das lumen die Dinge in ihrem Sein, verleiht es ihnen Tiefe, Undurchdringlichkeit und Schwere. Doch stillschweigend operiert die cartesische Anordnung damit bereits auch mit zweierlei Licht. Es gibt nicht nur das lumen naturale, jene göttlich autorisierte Bürgschaft, die für die Realität einsteht. Ebenso gibt es ein Licht, das die wahrnehmbaren Dinge umspielt und in trügerischen Bilder projektiert, die den Verstand beständig täuschen könnten. Zwei Ordnungen, zwei Register des Lichts also, die interferieren oder sich wechselseitig unterbrechen, um das Kalkül eines scharf blickenden Verstandes zum Zug kommen zu lassen. Im Spiel dieser göttlichen Interferenz von Licht und Licht wiederholt sich nicht weniger als der ontologische Riss einer cartesisch strukturierten Moderne. In diesem Spiel stützt sie sich ab, und alles, was in ihr „Subjekt“ genannt werden wird, wird bis in die Analytik hinein ein Echo des göttlichen Namens gewesen sein.

Denn welche Einsicht fördert Lacan zutage, wenn er diese cartesische Anordnung von ihrem Ende her aufrollt, um ihrer epoché einen anderen Anfang, einen anderen Ausgang zu eröffnen? Tatsächlich ist das Subjekt der Psychoanalyse nicht das Gegenteil des cartesisch verfassten; es ist das cartesische Subjekt selbst. Es buchstabiert sein Begehren, wo psyche und soma einander berühren, ohne sich noch in einer göttlichen Substanz als deren Attribute bergen zu lassen. Nicht länger verbürgt sich im lumen also ein das Reale gewährender Gott; nicht lässt sich in der Reihe der Vorstellungen, wie Descartes dies noch verlangen konnte, „zu einer ersten gelangen, deren Ursache gleichsam das Urbild darstellt, das den ganzen Sachgehalt in gegenständlicher Form besitzt, der in der Vorstellung nur als ihre Bedeutung vorhanden ist.“ (8) Diese Regression eines Regressus, an dessen Ende die Existenz des Vollkommensten evident hatte werden sollen, ist ontologisch verstellt. Mit dem Freud’schen „Grenzbegriff“ (9) eines Triebs, der sich ohne die Bürgschaft einer göttlich gesicherten Existenz exponiert, hat sich die Interferenz des Lichts ins Medium selbst zurückgezogen. Nichts bleibt vom lumen als das maschinelle Differieren einer Differenz, die im Feld des Sichtbaren auf ein Jenseits imaginärer Trugbilder verweist, ohne sich auf ein göttlich Reales noch zurückführen zu lassen.

Die Gabe des Sum teilt sich dieser von Gott verlassenen Welt vielmehr aus einer Differenztechnik zu, die den leeren Platz dieses Gottes seinerseits in Teilungen zerstreut. Nunmehr spielt alles, was zählt, in der Medialität jenes „Schirms“, dessen krísis Lacans Analytik umso hartnäckiger als „Ort der Vermittlung“ (10) befragt. Was ist, taucht in ihm auf, teilt sich und verteilt sich aus ihm, ohne dass er als Ort selbst zu verorten wäre. Aus dieser Ortlosigkeit, die das Mediale im Innersten auszeichnet, adressieren sich die Dinge wie in einer postalischen Struktur. In ihr erscheint das „Subjekt“ des Sehens selbst nur mehr als Residuum einer Querung, als Wiederholung eines Einschnitts, der auf keine göttliche Substanz mehr gestützt ist. Dies allerdings setzt dieses „Subjekt“ zugleich selbst aufs Spiel, entzieht ihm den Realitätsindex, exponiert es einer Grundlosigkeit, die sich in der transzendentalen Obdachlosigkeit seines In-der-Welt-Seins wiederholt. Existenz kommt ihm nur mehr als Riss zu, der sein Begehren exponiert. Doch dieser Riss ist eher selbst noch Symptom, und nicht erfüllt sich in ihm schon die „Wahrheit“ eines „Subjekts“, das seiner selbst inne wäre. Das Licht der Welt, sein Rieseln, sein Funkeln, das Spiel seiner Brechungen, seiner Teilungen und Zuteilungen teilt dieses „Subjekt“ selbst, trennt es von sich und zerstreut es. Es durchquert nicht nur das Unbewusste des cartesischen Cogito; ebenso wenig löst es seine Körperlichkeit nur malerisch auf, wie Panofsky vermerkt. Denn, wie Nancy erklärt, „in Wahrheit war der Körper Gottes der Körper der Menschen selbst: Das Fleisch des Menschen war der Körper, den Gott sich gegeben hatte.“ (11)

Wie also ließe sich der Zerfall dieses Körpers aufschieben, nachdem die göttliche Inkarnation zerfiel? Wie könnte sich im differentiellen Spiel des „Schirms“, in dem sich die Erscheinungen der Welt verteilen, präsentieren und ins Sichtbare kehren, jener Realitätsbeweis noch einschreiben, dessen Unanfechtbarkeit die cartesische Ordnung aus der Regression eines Regressus hatte hervortreten lassen wollen? Kaum mehr bleibt, „nach“ dem Tod Gottes, als die Geste des Regresses selbst, wie sie Medientechnologien eines Zu-Sehen-Gebens charakterisiert „Vergessen wir nicht“, akzentuiert Lacan, „dass im Pinselstrich des Malers eine Bewegung ausläuft. Wir haben etwas vor uns, was dem Begriff der Regression eine neue und abweichende Bedeutung gibt – wir haben das motorische Element im Sinn einer Antwort vor uns, insofern es nämlich nach rückwärts seinen eigenen Stimulus erzeugt.“ (12) Eine Regression also auch hier. Doch ersetzt sie die ontologische Evidenz durch eine künstlerische Geste; an den Platz der nicht weiter zu be-zweifelnden Gewissheit trat eine postalische Motorik, die sich in der Supplementarität ihrer selbst aufschiebt oder als différance des Lichts iteriert. In ihr sucht sich einzuholen, nach rückwärts, was nie war und sich deshalb nur wiederholt. Aber wie sollte diese Bewegung dann, wie Lacan unterstellt, im Pinselstrich „auslaufen“, so als wäre die Motorik hier, am Ort eines sehenden „Subjekts“, zur Ruhe gekommen? Was also nötigt Lacan, der Geste dieses Zu-Sehen-Gebens zu bescheinigen, „terminal“ zu sein?

Wie mir scheint, konzentriert sich hier alles auf die Frage, die Derrida an die Postalik Lacans richtete: ob es tatsächlich die Bestimmung eines Briefes sei, seinen Bestimmungsort zu erreichen. (13) Nicht anders nämlich als im Zeichen eines solchen finalen Eintreffens ließe sich dessen mediale Differentialität still stellen, und nur so könnte sie terminal „auslaufen“. Das „Subjekt“ indes, dem dies widerfährt, ist bereits in sich Subjekt im Modus jenes Selbstverlusts, den es mit der göttlichen Instanz einer Bürgschaft teilt, indem es deren Teilungen, Streuungen oder Disseminationen seinerseits teilt. Und umso weniger ist die Zustellung davor geschützt, in sich jenem irreduziblen Selbstverlust ausgesetzt zu sein, der sich ihrem Eintreffen entzieht: jener Fragmentierung also, die noch die Ontologie von Sein und Seinsverfehlung durchquert – oder von der Nancy sagt, sie trage „in sich das Versprechen, dass seine fraktale Linie nicht in einem zusammengefügten Ganzen verschwindet, sondern an anderer Stelle wieder erscheint.“ (14)

Aber deshalb gibt es auch ebenso wenig einen Bestimmungsort, der die Geste terminal auslaufen ließe, wie einen privilegierten Ort des „Subjekts“, an den sie adressiert wäre. Ein Stich, dem freilich auch die Analytik Rechnung trägt. Hellhörig zumindest macht die Scheu, mit der Lacan, Freud folgend, von allem Abstand nimmt, was auf eine Psychoanalyse des Künstlers hinauslaufen würde. Ganz so, als sei sie vom verschwiegenen Wissen um deren Unmöglichkeit gezeichnet: in dieser Scheu insistiert, dass auch der Analyse bereits entgangen sein wird, was sich zeigt, indem es sich zustellt. Unabweisbar wird, dass „Symbol“ und „Sehen“ ihrerseits nur Residualpositionen einer Differenz markieren, von der sie ebenso durchquert wie zerstreut werden. Mit der göttlichen Bürgschaft des Blicks zerfällt das cartesische Subjekt noch da, wo es sich als Subjekt eines „Unbewußten“ sistieren will. Die Maschinerien des Blicks teilen es nicht nur, sondern lassen es seinerseits aus Teilungen auf sich zukommen, in denen sich noch das „Sein“, das es verfehlt, bereits disseminiert hat. Umso drängender aber ist den Maschinerien des Sehens die Versuchung eingelassen, die göttliche Instanz des Realen immer neu zu restituieren. Immer neu sucht sich das „Subjekt“ zu attestieren, Gottes Platz einzunehmen und als Schöpfer einer Welt zugleich zum Bürgen des „Realen“ geworden zu sein.

Ein schönes Beispiel illustriert dies, von Merleau-Ponty eingeführt, von Lacan aufgegriffen: es zeigt Matisse in der Zeitlupe eines Films, malend, oder mehr noch: seinen Pinsel, der über der Leinwand tanzt, kurz innehält, zu meditieren scheint, um dann immer neu zum einzig möglichen Strich niederzufahren, der eine Welt entstehen lässt. „Natürlich hat diese Analyse etwas Künstliches“, schrieb Merleau-Ponty, „und Matisse täuschte sich, wenn er auf Grund des Films glaubte, dass er tatsächlich an jenem Tag zwischen allen möglichen Pinselstrichen operiert und wie der Gott von Leibniz ein ungeheures Problem des Minimum und Maximum gelöst habe; er war kein Demiurg, er war Mensch.“ (15) Von welchem Menschen aber ist hier die Rede? Denn wie könnte dieser „Mensch“ den Tod Gottes überlebt haben? Als Untoter etwa? Als Gespenst? Täuschend erscheint dessen eigene Göttlichkeit immer nur in einem anderen Medium, wie Matisse sich selbst im Film. Und nicht von der Hand zu weisen wäre, dass in Medien nur deshalb beständig andere auftauchen, weil anders der unmögliche Beweis eines göttlich ver-bürgten Realen im Sichtbaren nicht zu simulieren wäre als im Gespenstischen: sich nämlich anzueignen und einer Ökonomie des „Subjekts“ zuzueignen, was bei Lacan noch „Blick“ hieß.

So bleibt der Ausgang aus einer cartesisch verfassten Ordnung des Sehens von tiefer Zweideutigkeit gezeichnet. Als Abschied von deren epoché gehört er der cartesischen Ordnung noch dort an, wo er seine Wahrheit im „Unbewussten“ aufsuchen will; in den Trugbildern der eigenen Göttlichkeit allerdings zerbricht es oder stürzt. Und legt davon das 20. Jahrhundert nicht beredt Rechenschaft ab, in der schließlich die göttliche Maschine des Computers ihren Siegeszug antrat?

 

 

 

(1) Martin Heidegger: Die Zeit des Weltbildes, in: ders.: Holzwege, Frankfurt/M.: Klostermann 1980, S.90.
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(2) vgl. Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Das Seminar Buch XI, Weinheim/Berlin: Quadriga 1987, S.97ff.
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(3) Lacan, ebd., S.100.
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(4) vgl. Hans Belting: Bild-Anthropologie, München: Fink 2001.
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(5) Erwin Panofsky: Die Perspektive als ‚symbolische Form’, in: ders.: Aufsätze zu Grundfra-gen der Kunstwissenschaft, Berlin: Bruno Hessling 1964, S.123.
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(6) René Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg: Meiner 1977, S. 69.
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(7) Descartes, ebd., S.87.
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(8) Descartes, ebd., S.77.
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(9) Vgl. Sigmund Freud: Triebe und Triebschicksale, Studienausgabe Bd.III, Frankfurt/M.: Fischer 1975, S.85.
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(10) Lacan, ebd., S.114.
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(11) Jean-Luc Nancy: Corpus, Berlin: diaphanes 2003, S.55.
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(12) Lacan, ebd., S.121.
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(13) vgl. Jacques Derrida: Die Postkarte. Zweite Lieferung, Berlin: Brinkmann & Bose 1987, S.273.
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(14) Jean-Luc Nancy: Die Kunst – ein Fragment, in: Jean-Pierre Dubost (Hg.): Bildstörung. Gedanken zu einer Ethik der Wahrnehmung, Leipzig: Reclam 1994, S.182.
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(15) Maurice Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist, Hamburg: Meiner 1984, S.75.
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